Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
Vom Netzwerk:
war sie ein Indiz für die expressive Emphase der Bewegung, die im Mai 1968 wichtiger war als die klassische politische Revolution. Es ging um die Chance zur Selbstentfaltung, um Kreativität und Provokation – nicht zufällig lautete eine vielgehörte Parole: «Die Phantasie an die Macht!» Auch ein charismatischer Studentenführer wie Daniel Cohn-Bendit, zugleich eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen dem französischen und dem westdeutschen Protest, zeigte sich zurückhaltend, als der große marxistische Alt-Intellektuelle Jean-Paul Sartre ihn auf dem Höhepunkt der Bewegung geradezu drängte, die im klassischen Marxismus und Leninismus vorgesehene Revolution zu betreiben. Cohn-Bendit wollte nicht zu einer elitären«Vorhut» gehören; an die Stelle von Strategie setzte er Spontaneität. Zunächst sei es wichtig, dass die Menschen sich authentisch ausdrücken könnten. «Geben Sie uns Zeit», bat er den ungeduldigen, altlinken Philosophen.
    In West-Berlin und der Bundesrepublik gab die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizeibeamten am 2. Juni 1967 das Signal für eine breitere Mobilisierung, auch für eine Radikalisierung des Protests. Ohnesorg hatte an einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien, und damit gegen die Hofierung seines autoritären Regimes durch die westlichen Demokratien, teilgenommen. Dahinter stand zugleich der heftige Protest gegen die USA, in der viele Jüngere nicht mehr die «Schutzmacht» der westlichen Freiheit sahen, sondern den Unterdrücker von Freiheitsbewegungen in der «Dritten Welt», zumal in Vietnam. Die Solidarisierung mit dem antikolonialen Befreiungskampf in Afrika, Asien und Lateinamerika war ein zentrales Motiv des deutschen Protests; man fühlte mit den «Verdammten dieser Erde», wie sie Frantz Fanon in seinem gleichnamigen Buch von 1961 beschrieben hatte, das zu einem Kultbuch der Studentenbewegung und des frühen Menschenrechtsdiskurses wurde. Darin steckte der Keim eines erweiterten Verständnisses von Demokratie, das sich in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich entfaltete: die Idee nämlich, nicht für die eigenen Interessen die Stimme zu erheben (wie es die sozialen Bewegungen der klassischen Moderne getan hatten), sondern für Dritte, die dazu möglicherweise selber nicht in der Lage waren. So drückten die Studenten das 1967 noch nicht aus, aber: Man war Anwalt für andere; man engagierte sich, wie es heute im englischen Jargon heißt, in der «advocacy».
    Gleichzeitig stilisierte die Studentenbewegung den antikolonialen Befreiungskampf zu einem Vorbild für die eigene Situation in den «imperialen Metropolen». Den Kapitalismus und die bürgerliche Herrschaft, die anderswo Menschen unterdrückten, müsse man auch zu Hause abschütteln; die Führer revolutionärer Bewegungen in der Dritten Welt wurden deshalb als politische Vorbilder verehrt. Darin kam ein gutes Stück revolutionärer Romantik zum Ausdruck, aber auch ideologische Verblendung, die einen Teil der Studierenden zur Verehrung von Diktatoren wie Mao Zedong führte. Mao, Ho Chi Minh und vor allem Ernesto «Che» Guevara waren Projektionsflächen der eigenen Sehnsüchte, einem als erstarrt und repressiv empfundenen «System» durch die große Befreiungstat entkommen zu können. Mehr alsin Frankreich, erst recht in den USA, war das Weltbild der westdeutschen Linken in der Studentenbewegung eines der Düsterkeit und persönlichen Ausweglosigkeit. Rudi Dutschke, der eloquente und mitreißende Führer der Berliner Studenten, sprach zwar häufig in verquollenen marxistischen Phrasen vom Kampf gegen Staatsgewalt und Imperialismus. Man müsse «die repräsentative ‹Demokratie›» – Demokratie in Anführungszeichen, denn sie sei es ja nicht wirklich – «zwingen, offen ihren Klassencharakter, ihren Herrschaftscharakter zu zeigen». Dahinter stand der Traum von einem «neuen Menschen», der in der Revolution – wie schon in China 1949 und Kuba 1959 – entstehen bzw. in einem «Erziehungsprozess» geformt werden müsse. Im Rückblick war diese Sehnsucht nach der Formung des neuen Menschen kein Durchbruch in eine neue Zeit, sondern einer der letzten Ausläufer eines Projektes der klassischen Moderne seit dem späten 19. Jahrhundert. Wie ihre Vorgänger –

Weitere Kostenlose Bücher