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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Demokratie des materiellen Überflusses und eine «totalitäre Demokratie», weil sie die Menschen manipuliere und in einen Käfig der Unterdrückung sperre. Die bis heute besonders umstrittene Schlussfolgerung Marcuses hieß: Die vermeintlich liberale Toleranz ist in Wahrheit «repressiv», an ihre Stelle sollte eine «befreiende Toleranz» treten, die auf die Toleranz gegenüber den vermeintlichen Unterdrückern verzichten konnte. Die Unterdrückung zu überwinden könne undemokratische Mittel erfordern, auch die Anwendung von Gewalt.
    Blickt man auf die politischen Zielvorstellungen, ist die Bilanz der Studentenbewegung also ernüchternd. Gewiss erinnerte sie an Defizite der liberalen Demokratie, im Grundsätzlichen ebenso wie in der Praxis, aber eine politische Strategie der Demokratisierung, die sich mit dem Anspruch etwa der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vergleichen ließ, gab es in Westeuropa nicht. Dennoch leisteten die Protestbewegungen seit den 1960er Jahren auch hier wichtige Beiträge zur Dynamisierung der Demokratie. Sie erprobten Handlungsformen der direkten Partizipation – die freilich nicht erfunden, sondern aus den USA, aus Südafrika oder Indien übernommen waren –, die sich auf lange Sicht als Ergänzungen der repräsentativen Demokratie etablierten. Wichtiger noch, sie weiteten den Anspruch auf Demokratisierung auf die innersten Bereiche der Gesellschaft aus, und zwar in einem anderen und langfristig viel folgenreicheren Sinne als die Fürsprecher einer «Demokratisierung aller Lebensbereiche». Diese zielten auf Institutionen, sozusagen auf die Repräsentativverfassung der Universitäten, der Kirchen, der Unternehmen. Den Studenten und der weiteren Bewegung der «Counterculture» ging es um eine Befreiung des Individuums zu Autonomie und Authentizität. Deshalb begann diese Revolution in den privaten Verhältnissen. «Das Private ist politisch», lautete ein Slogan der neuen Frauenbewegung. Es ging um ein neues Maß an Selbstbestimmung – symbolisch verdichtet im Streit um das Recht auf straffreie Abtreibung – und Expressivität.
    Der Soziologe Talcott Parsons hat frühzeitig geradezu von einer «expressiven Revolution» gesprochen, die die westlichen Gesellschaften mit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erfasst habe. Die antiautoritäre Erziehung etwa brachte pointiert zum Ausdruck, dass jeder Mensch von Geburt an in möglichst radikaler Freiheit über sich verfügen dürfe. Jenseits des politischen Revolutionismus, der schnell wiederversickerte (oder für eine kleine Minderheit in den Terrorismus führte), stand die Suche nach Individualisierung und nach einer möglichst «horizontalen», von Hierarchien und Autoritäten befreiten Gesellschaft. Dieser Impuls ließ sich nicht wieder rückgängig machen, auch wenn manche Experimente und Grenzüberschreitungen scheiterten. Er war auch nicht bloß einigen Aktiven in der Studenten-, Frauen- oder Alternativbewegung zuzurechnen, sondern wurzelte zugleich in jener Entwicklung im «mainstream» der westlichen Gesellschaften, die diese Bewegungen gerade bekämpften: in der ökonomischen Prosperität des Nachkriegskapitalismus, in Massenkonsum und Massenmedien, in der Sicherheit einer Sozialpolitik, die linke Kritiker manipulativ nannten.
    In der partizipativen Politik der 1970er Jahre wirkten viele dieser Impulse fort: in Bürgerinitiativen, in Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensgruppen, in außerparlamentarischer Politik zwischen lokalem Protest und Großdemonstrationen. Zwar sponnen einige, zunehmend isolierte Inseln wie die maoistischen oder trotzkistischen Kleinparteien-«Sekten» die ideologische Überfrachtung des «roten Jahrzehnts» noch bis etwa 1977 fort, und die Debatte um die Legitimität von Gewalt und gewaltsamen «Widerstand» in der parlamentarischen Demokratie flaute sogar erst in den 80er Jahren ab, nachdem der gewalthafte soziale Protest auch in der Praxis noch einmal heftig eskaliert war: in den Schlachten, die sich radikalisierte und frustrierte junge Menschen mit der Polizei um den Bau von Atomkraftwerken, wie in Brokdorf 1976, oder um infrastrukturelle Großprojekte wie die «Startbahn West» des Frankfurter Flughafens lieferten. Insgesamt aber übersetzte sich das Streben nach Expressivität, Freiheitsspielräumen und individuellen

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