Was ist Demokratie
zu machen. Wahlen zu universitären Gremien lieÃen sich aus einem dynamisierten Konzept von Demokratie ebenso wenig herausdefinieren wie der Abbau familiären Patriarchalismus oder die selbstbewusste Inanspruchnahme öffentlichen Raumes durch Demonstrationen oder Bauplatzbesetzungen. Willy Brandt hatte nicht zufällig aufgefordert, mehr Demokratie zu «wagen», denn die Erweiterung der Demokratie konnte auf Grenzen stoÃen oder mit Risiken behaftet sein: Grenzen der Freiheit anderer, Grenzen der Mehrheitsregel, Grenzen der selbstermächtigten Gewalt.
Die Hochphase der demokratischen Euphorie ging ohnehin schnell wieder zu Ende. Teilweise war das der erfolgreichen Integration des Protests in den demokratisch-parlamentarischen «Normalbetrieb» zu verdanken, der dadurch gleichzeitig frische Impulse erhielt â ein Modell, das sich seitdem öfters wiederholte. Vor allem aber veränderten sich die äuÃeren Umstände dramatisch. Die erste Ãlkrise beendete 1973 nicht nur den langen Nachkriegsboom des Westens, sondern verband sich, in der Bundesrepublik wohl schärfer als anderswo, mit einem kulturellen Umschwung in die Zukunftsskepsis, weg von den groÃen Planungsutopien und der Mentalität der Machbarkeit, in ihrer revolutionären ebenso wie in ihrer technokratischen Variante. Wie ein letztes Aufflackern der zu Ende gegangenen Zeit wirkte der «Ãkonomisch-politische Orientierungsrahmen für die Jahre 1975 bis 1985», den die SPD nach hitziger Diskussion auf dem Mannheimer Parteitag im November 1975 verabschiedete â und der bald danach in Vergessenheit geriet. Schon anderthalb Jahre früher hatte der Pragmatiker Helmut Schmidt von Willy Brandt das Kanzleramt übernommen. Schmidt verstand sich als Konsolidierer und Krisenbewältiger; für sein Verständnis demokratischer Politik berief er sich gerne auf Max Webers «Bohren dicker Bretter» und auf Karl R. Poppers «piecemeal engineering»: kleine, situative Schritte statt groÃer, planmäÃiger Transformation.
Insofern erlebte der Pragmatismus der Nachkriegszeit eine Renaissance und prallte auf erneuerte Demokratieängste der Linken, die in der entschlossenen Antwort des Staates auf die Anschläge der RAF-Terroristen, mit dem Höhepunkt im «Deutschen Herbst» 1977, Grundrechte gefährdet und die Bürger vom Staat mehr bedroht als geschützt sahen. Wie schon bei den Notstandsgesetzen war die Realität weit von den schlimmsten Befürchtungen einer Aushebelung des Grundgesetzes entfernt. Aber die Kritiker legten den Finger mit Recht in eine Wunde, die viel später, nach den Anschlägen vom 11.September 2001 in den USA, erst recht schmerzte: Das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit wurde zu einem Grunddilemma der Demokratie seit dem späten 20. Jahrhundert.
10 Amerika und Europa:
Protestbewegungen und partizipatorische Demokratie seit den 1960er Jahren
Mit der internationalen Studentenbewegung von 1968 fing es an, bald kam die neue Frauenbewegung dazu, in den 70er Jahren auch Bürgerinitiativen und ein ganzes Bündel «neuer sozialer Bewegungen», wie die Forscher sie bald nannten, um sie von den «alten» Protest- und Reformbewegungen wie der Arbeiterbewegung zu unterscheiden. Besonders in der Bundesrepublik, aber auch in einigen anderen westlichen Ländern verdichteten sich daraus um 1980 ökologische oder «grüne» Parteien, die sich eine «basisdemokratische» Erneuerung der Demokratie auf die Fahne schrieben. Die Partei, erst recht ihre parlamentarische Vertretung, galt aber nicht mehr als Hauptarena der politischen Aktivität von Bürgerinnen und Bürgern. Neue, eher informelle Handlungsformen wie Demonstration, Sit-In oder Boykott setzten sich durch, häufig grundiert von einer Haltung der bewussten Provokation gegenüber staatlicher Autorität. Seit den 1980er Jahren ist die «partizipatorische» Demokratie aus dem Gesamtbild der modernen Demokratie nicht mehr wegzudenken. Sie hat die klassischen und repräsentativen Formen nirgendwo abgelöst, aber beträchtlich erweitert und die Praxis von Demokratie nachhaltig in Bewegung gebracht.
Diese knappe Skizze entspricht einem inzwischen weithin akzeptierten Bild. Die Anfänge von Protestbewegung und partizipatorischer Demokratie lagen jedoch nicht in der Studentenbewegung der mittleren und späten 60er Jahre, sondern reichen bis in die 40er und
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