Was ist Demokratie
bürgerliche Reformbewegungen, linke Revolutionsvisionen und rechte Ordnungsphantasien â oszillierte sie zwischen radikaler Befreiung des Individuums und totalitärem Anspruch auf Führung und Formung.
Das Spektrum politischer Vorstellungen innerhalb von Studentenbewegung und «Neuer Linker» war breit. Zu ihm gehörten auch Mahner gegen den populistischen Radikalismus und gegen die Verachtung von parlamentarischen Regeln und liberalen Grundrechten. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, 1964 auf den Lehrstuhl Max Horkheimers in Frankfurt berufen, sympathisierte mit den Studenten, war Teil und Ikone des Protests â und scheute sich gleichwohl nicht, den Illiberalismus scharf anzuprangern, der sich hinter scheinbar harmlosen Strategien der «Provokation» oder der «demonstrativen Gewalt» verbarg. Auf einem Kongress in Hannover am 9. Juni 1967, eine Woche nach dem Tod Ohnesorgs, warf er Dutschke und seinen Mitstreitern gar «linken Faschismus» vor. Diesen Begriff hielt Habermas selber später für unglücklich, aber sein prinzipieller Punkt blieb davon unberührt: «Ich möchte daran erinnern, dass es im Codex liberaler Rechte sehr wohl solche gibt, die auch für uns völlig unveräuÃerlich sind.» Genau daran schieden sich die Geister prinzipiell: Ging es um eine Einlösung der Versprechen liberaler und parlamentarischer Demokratie, auch um eine Erweiterung demokratischer Formen auf ihrer Grundlage? Oder begegnete man der «bürgerlichen» Demokratie mit einem prinzipiellen Misstrauen, sah also nicht nur Schwächen in ihr, sondern hielt sie für eine systemische Fehlkonstruktion, für eine Fassade, für ein manipulativesDesign, mit dem sich in Wahrheit nur ein Regime der Unterdrückung tarnte?
Es bleibt schwer zu erklären, warum die zweite Position gerade in der Bundesrepublik, die erst seit gut zwei Jahrzehnten dabei war, die Demokratie neu zu lernen, zeitweise so groÃe Anziehungskraft entfaltete â besonders unter den Gebildeten in der jüngeren Generation. Vermutlich spielte gerade die relative Neuheit der Demokratie eine Rolle, verbunden mit den Ãngsten vor einem erneuten Abgleiten in Autoritarismus und Diktatur, das sich für viele Kritiker schon vollzogen hatte. Und in anderen Ländern Westeuropas gab es, eher in der Tradition der klassischen Arbeiterbewegung, starke kommunistische Parteien, die mindestens bis in die 1970er Jahre sogar Schwierigkeiten hatten, sich von der positiven Faszination des sowjetischen Modells zu lösen. Sympathien für die Sowjetunion oder die DDR konnte man zum Beispiel dem DDR-Flüchtling Dutschke gewiss nicht vorwerfen. Aber auf einen grünen Zweig konnte die liberale Demokratie auch nicht kommen, wenn man sie in marxistischer Obsession nur als Sekundärprodukt eines Kapitalismus sehen konnte, den es zu überwinden galt. So war der Titel einer der meistgelesenen Schriften der deutschen Studentenbewegung bewusst doppeldeutig: Johannes Agnolis «Transformation der Demokratie» beschrieb die Pervertierung der bürgerlichen Demokratie, an der in Wirklichkeit nichts mehr demokratisch sei, und gab zugleich eine Parole für ihre Ãberwindung aus.
Eine ähnliche Haltung nahm Herbert Marcuse ein, Vordenker und Idol der internationalen Studentenbewegung und als Emigrant der NS-Zeit einer ihrer wichtigsten transatlantischen Mittler. In seinem Essay über «Repressive Toleranz» analysierte Marcuse das bürgerliche System mit der ganzen Selbstgewissheit des Hegelianers, Gut und Böse, Fortschritt und Rückschritt in der Weltgeschichte genau unterscheiden zu können. Aber wie Cohn-Bendit und wie Tom Hayden ging es ihm weniger um eine politische Systemanalyse. Vielmehr beklagte er den Verlust individueller Autonomie in der entfremdeten und repressiven Gesellschaft des kapitalistischen Westens; das Produkt war der «eindimensionale Mensch», der aus dem Gefängnis der realen Zustände ausbrechen müsse. Psychische Beschädigung des Menschen und kapitalistisches System â damit lag die Verbindung von Ãkonomie und Psychoanalyse, von Marx und Sigmund Freud nahe, die Marcuse und viele andere damals anzog. Aber die Diagnose mündete damit nicht in weltflüchtiges Streben nach individueller Selbstverwirklichung, sondernbehielt ihren politischen Stachel: Die bürgerliche Demokratie war falsch und repressiv; sie war zugleich eine
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