Was ist Demokratie
zurück. Besonders für das 20.Jahrhundert ist der «Fall Deutschland» aber auch grundsätzlich von Bedeutung, als ein Muster besonders radikaler Krisengeschichte mit weiten Pendelausschlägen zwischen mörderischer Demokratieverweigerung und demokratischem Musterschüler. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Geschichte von Demokratie endgültig global erweitert. In Indien etablierte sich die bevölkerungsreichste Demokratie der Erde und zugleich ein Muster für den Transfer von Demokratie in nichtwestliche Gesellschaften, wie er sich jüngst im arabischen Raum beschleunigt fortsetzt. Ãberhaupt ist die jüngere Dynamik der Demokratie, von internationalen NGOs bis zum Internet, an territoriale Grenzen immer weniger gebunden. Diese Entgrenzung jenseits des nordatlantischen Westens ist ein Fluchtpunkt der Darstellung, auch wenn eine wirkliche Globalgeschichte der Demokratie anders aussehen müsste.
In zeitlicher Dimension wird weit ausgeholt, aber keine strikt chronologisch angeordnete Geschichte erzählt. Die Kapitel des Buches folgen einem zeitlichen Faden, der von der Antike bis in die Gegenwart reicht. Doch geht es zugleich immer wieder um eine Problemdiskussion in systematischer Absicht. Die athenische Demokratie «war» nicht nur vor zweieinhalbtausend Jahren, sondern wirkt bis heute nach. Moderne Parteien sind im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entstanden â das ist Anlass, nach den Wandlungen politischer Parteien bis in das beginnende 21.Jahrhundert zu fragen. Man kann das Buch gewiss als eine Geschichte lesen, von vorne bis hinten, von den Anfängen bis in die Gegenwart. Man kann aber auch an jedem beliebigen Punkt «einsteigen», um sich über eine bestimmte Episode, ein bestimmtes Grundsatzproblem zu informieren und anregen zu lassen. Geschichte und Gegenwart sollen sich verbinden.
Das gilt noch in anderer Hinsicht: nämlich in dem Versuch, die Geschichte der Demokratie bis in das frühe 21. Jahrhundert zu führen. Damit ist nicht so sehr die Erwähnung bestimmter Ereignisse gemeint, vom Fall des Kommunismus bis zum arabischen Frühling, oder von der Etablierung der Grünen Partei bis zu Twitter und Wikileaks. Schwieriger ist nämlich der Entwurf eines Rahmens, in dem die jüngste Geschichte der Demokratie überhaupt erzählt â und das heiÃt ja: sinnhaft verdichtet â werden kann. Gerade in Deutschland dominierte lange Zeit (und teils bis heute) eine «Wiedergutmachungsgeschichte» derDemokratie: Nach der Katastrophe von 1933 bis 1945 arbeitete sich das Land mühsam wieder in die Demokratie zurück, zunächst institutionell mit dem Grundgesetz, dann im Wandel von Mentalitäten in der westlichen Nachkriegszeit, schlieÃlich auch mit der Einbeziehung der ehemaligen DDR. Diese Erzählung genügt nicht mehr. Denn wir sind nicht in einer Demokratie angekommen, die nach der Heilung einer furchtbaren Krankheit nunmehr immerwährende Stabilität verheiÃt. Wandlungen der deutschen Demokratie lassen sich längst nicht mehr mit einer Wiedergutmachung von Diktaturschäden erklären, sondern sind Teil einer viel breiteren â europäischen, westlichen, globalen â Dynamik von Demokratie geworden.
Der Fluchtpunkt dieser Dynamik, die sich besonders seit den 1960er Jahren entfaltet hat, ist nicht leicht zu fassen. Denn es ist nicht eine klare institutionelle Alternative zur klassischen Demokratie, die sich seitdem mehr und mehr herausbildet. Vielmehr verliert die klassische institutionelle Rahmung der Demokratie seitdem an Bedeutung, nämlich das repräsentative Regime von Wahlen, Parlamenten und parlamentarischer Exekutive. Demokratie franst aus, wird vielfältiger, tritt nicht notwendig institutionalisiert, jedenfalls nicht formal organisiert auf: etwa in sozialen Bewegungen, die keine Parteien mehr sind, oder in Menschenrechtsorganisationen, die für junge Menschen ebenso wichtig sind wie früher die Parteien, aber im Gegensatz zu diesen keine Erwähnung im Grundgesetz finden. Ein Grundzug der jüngsten Demokratiegeschichte ist die Aufwertung der unmittelbaren Bürgerbeteiligung, der Siegeszug der «partizipatorischen Demokratie». Aber darin geht die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht auf. Wie verhält sich die Europäische Union zur nationalen und zur Bewegungsdemokratie? Warum spielen Gerichtsentscheidungen eine so groÃe
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