Was ist Demokratie
als Lebensform. Besonders seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist sie immer wieder als ein «way of life» interpretiert und gesucht worden. Ohne diese Sehnsucht nach einer Lebensführung in Gleichheit, Freiheit, Teilhabe und Selbstverwirklichung ist Demokratie seitdem nicht mehr vorstellbar. Dennoch kann der politische Kern der Demokratie in einem solchen, weit gefassten Ideal nicht seine spezifischen Konturen verlieren, ohne die politische Freiheit zu gefährden. Das ist weit mehr als eine abstrakte Frage: In der Entwicklung der Volksrepublik China scheint die Möglichkeit einer weithin offenen, modernen, liberalisierten Gesellschaft auf, der die politische Selbstbestimmung gleichwohl fehlt.
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Angesichts eines so wichtigen, in Wissenschaft und Ãffentlichkeit gleichermaÃen breit und kontrovers diskutierten Themas erstaunt es, dass eine Geschichte der Demokratie in letzter Zeit nur selten geschrieben wurde. Interessierte Leserinnen und Leser können bisher nur auf eine sehr begrenzte Auswahl von Titeln zurückgreifen, von denen die meisten in englischer Sprache vorliegen. Die wegen ihrer Originalität und intellektuellen Weite bemerkenswertesten Versuche, die auch den Verfasser dieses Buches immer wieder angeregt haben, sind eine knappe Skizze von John Dunn und jüngst, erst 2009 erschienen, die beeindruckende und umfangreiche Darstellung aus der Feder John Keanes. Beide zeichnen sich durch eine interdisziplinäre Perspektive aus, die Politikwissenschaft und Geschichte verbindet; beiden fehlt eine deutscheÃbersetzung. Beide richten sich zudem eher an ein fachlich vorgebildetes, wenn nicht wissenschaftliches Publikum.
So trifft dieser Versuch, Geschichte und Gegenwart, historische Entwicklung und grundsätzliche Probleme der Demokratie zu umreiÃen, hoffentlich auf Interesse. Seine Idealvorstellung ist die Neugier der Leserin und des Lesers, der Ausgangspunkt der Darstellung deswegen immer wieder das Prinzip der Physikstunde aus der «Feuerzangenbowle»: «Jetzt stellen wir uns mal ganz dumm». Was ist eigentlich Demokratie, warum gibt es Parteien, wie war das mit der Französischen Revolution oder dem Grundgesetz? Es rechnet zugleich damit, dass sich Neugier verführen lässt, auch einmal etwas komplizierteren Gedankengängen zu folgen. Wer sich genauer auskennt, wird darin Fachbegriffe wiedererkennen, wird Positionen der Theorie und der Forschung reflektiert finden, die zum Teil auch in den Literaturnachweisen dokumentiert sind. Für andere, für Einsteiger, bieten diese Hinweise die Möglichkeit zum vertieften Weiterlesen. Wem es an einer Stelle zu schwierig wird, der möge das Buch nicht gleich aus der Hand legen, denn mit jedem Abschnitt beginnt der Erklärungsversuch von neuem.
Die Gegenwart der Demokratie jedenfalls, die der Titel des Buches verspricht, findet sich nicht nur auf seinen letzten Seiten, sondern vom ersten Kapitel an und zieht sich als ein roter Faden durch die historischen Annäherungen hindurch. Viele Themen, viele historische Ereignisse und systematische Aspekte fehlen gleichwohl â enzyklopädische Vollständigkeit war nicht das Ziel und wäre bei einem solchen Gegenstand ohnehin nicht erreichbar, auch wenn eine gründlichere, zwangsläufig dann aber auch erheblich umfangreichere Geschichte der Demokratie wünschenswert bleibt. Wichtiger ist: Leserinnen und Leser sollen sich in diesem Buch selber wiederfinden können und bei der Lektüre erfahren: Demokratie ist nicht das, was einige andere veranstalten, sondern hat etwas mit mir zu tun, so wie sie seit jeher von Menschen gemacht wurde.
II Anfänge
Demokratie ist noch sehr neu und hat doch eine lange Geschichte. Sie beginnt vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren, als athenische Bürger die Herrschaft des Volkes zum ersten Mal praktizierten â und ihr auch diesen Namen gaben. Etwas später erprobten die Römer den selbstverwalteten Staat ohne Könige: die Republik. Aber bald riss dieser Faden. Erst in viel jüngerer Erinnerung konnte die antike Demokratie als Vorgeschichte einer anderen, modernen gedeutet werden. In der Zwischenzeit war Demokratie in Europa unbekannt und passte nicht zu Gesellschaft, Politik und Kultur des christlichen Kontinents. Erst seit dem späten Mittelalter regten sich, vor allem in Städten, neue Ansätze bürgerschaftlicher Selbstregierung; später entstanden auch Republiken wie die der Niederlande. Aber
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