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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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geschaffenen politischen Welt größeres Gewicht zukommt, oder den Traditionen, aus denen sich diese speiste: den frühneuzeitlichen Ständeversammlungen und Rechtstraditionen etwa, bleibt schwer zu entscheiden.
    Die nächste Weggabelung müsste man etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts ansetzen, als die radikale Kritik an der liberal-parlamentarischen Demokratie sich von den gemeinsamen Wurzeln weiter entfernte und in die sozialistische Herausforderung mündete. Ein alternativer institutioneller Entwurf zeichnete sich aber erst in Umrissen ab. Marx und Engels kritisierten zwar schon in ihren jüngeren Jahren die bürgerliche Demokratie und den parlamentarischen Betrieb, zeichneten aber nur ein sehr vages Bild von der politischen Gestalt der erträumten freien Gesellschaft der Zukunft. Die Sehnsucht nach der direkten Demokratie, nach der unmittelbaren Entscheidung der Bürger vor Ort, blieb groß, und die Vorstellung von einer Demokratie, die von der Produktion, vom Arbeitsplatz her organisiert war, bildete sich langsam heraus. Mit beidem experimentierte die Pariser Kommune 1870. Seitdem blieb die Kritik an der «bürgerlichen» Demokratie ein Stachel in den Konflikten und Debatten, vor allem in Kontinentaleuropa. Hinter der parlamentarischen Demokratie vermuteten die Sozialisten verschiedener Strömungen immer wieder eine bloße Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Das war manchmal auch keine ganz falsche Beschreibung, zum Beispiel in Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In Deutschland traf es eigentlich nie zu, weil die SPD bereits eine starke parlamentarische Stellung gewann, als der Adel gerade erst seinen Rückzug antrat.
    Man ist überhaupt davon abgekommen, die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts als «bürgerliche» zu bezeichnen, wie das eine Zeitlang auch in der nichtmarxistischen Wissenschaft üblich war. Dafür war der Anteil der «kleinen Leute», des einfachen Volkes in ihnen viel zu groß. Anders gesagt: Gerade weil die Ungebildeten, die Handwerker, die Arbeiter einen so erheblichen Anteil an den demokratischen Bestrebungen dieser Zeit hatten; gerade weil sie sich dabei ganz überwiegend mit der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie und den vermeintlich «bürgerlichen» Freiheitsrechten identifizierten, ist der Begriff der bürgerlichen Demokratie schief, sofern er unterstellt, jenseits dieser Institutionen sei die Demokratie überhaupt erst zu entdecken. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung seit den 1860er Jahren wollte gleiche Staatsbürger- und Freiheitsrechte (zögernd dann auch für die Frauen), wollte freie Wahlen und parlamentarische Regierung: Dann würde sich, so war etwa Ferdinand Lassalle überzeugt, auch die soziale Lage der Arbeiter bessern können. Im frühen 20. Jahrhundert nahm der Begriff der «bürgerlichen Demokratie» erst recht, und zwar auf der radikalen Linken wie auf der Rechten, abwertende, oft denunziatorischeZüge an, und bis heute schwingt in seinem Gebrauch etwas von dem Vorwurf mit, das parlamentarische System sei so etwas wie eine uneigentliche Demokratie, zu der eine Alternative entwickelt werden müsste.
    Aus dieser Tradition nahm dann auch am Anfang des 20. Jahrhunderts eine institutionelle Alternative konkretere Gestalt an: das Konzept der Rätedemokratie. Die «Räte» von Arbeitern und Soldaten waren das Produkt revolutionärer und kriegsmüder Situationen, wie in Russland 1905 und 1917, und in Deutschland 1918. Es erwies sich aber als schwierig, sie in einen Dauerbetrieb zu überführen. Dann näherten sie sich entweder in ihrer Arbeitsweise parlamentarischen Gremien an, oder sie verloren ihren demokratischen Charakter, und überhaupt ihr politisches Gewicht, gegenüber Parteiführung und starker Exekutive. Die gleichzeitige Instabilität der parlamentarischen Demokratie in Europa verlieh dieser Option zwar eine gewisse Glaubwürdigkeit, doch konnte sie sich als demokratische Alternative nirgendwo etablieren. Im späteren 20. Jahrhundert drängte in der Kritik der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie der unmittelbare und direkte Impuls wieder in den Vordergrund, wie er sich etwa im grünen Schlagwort von der «Basisdemokratie» bündelte. Aber es war schnell, wenn nicht von Anfang an klar, dass damit nur eine Erweiterung und Reform, nicht aber institutionelle Alternative zum

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