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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Parlaments- und Wahlregime gemeint sein konnte.
    Vielleicht ist die Erfindungskraft der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften ausgereizt, was ganz andere Mechanismen der Demokratie betrifft; oder sie können sich nicht von dem Gewicht ihrer historischen Tradition lösen, von der «Pfadabhängigkeit» ihres einmal eingeschlagenen Weges? Dann könnten demokratische Modelle jenseits des westlichen Syndroms von Wahlen, Parteien und Parlament an anderen Stellen der Welt, in anderen Ländern, aus der Tradition anderer Kulturen entstehen? Das ist eine sehr reizvolle Überlegung, und schlecht für die Zukunft der Demokratie wäre eine breitere Palette gewiss nicht. Aber bisher gibt es dafür kaum empirische Indizien. Vielmehr wird der Ruf nach Freiheit und Demokratie fast immer in die Forderung nach freien Wahlen zu einem freien Parlament übersetzt, wenn Unmut gegenüber autoritären Herrschern oder Militärdiktaturen den nächsten Schritt der Konkretisierung einer Alternative geht.
    Es gibt wohl keine Kultur, in der es nicht Traditionen und Institutionen der gemeinsamen Beratung politischer Angelegenheiten, der Entscheidungsfindungin Versammlungen, meist auch der Bestimmung von Führern gibt. In arabischen Gesellschaften und nach islamischem Recht ist die «Schura» eine solche Ratgeberversammlung. Im 19. Jahrhundert haben Europäer immer wieder den «Großen Rat» des Irokesenbundes, eines Zusammenschlusses von Indianervölkern im heutigen Staate New York seit dem 16. Jahrhundert, als Vorbild einer «anderen» Demokratie angeführt. Aber auf die Bedingungen moderner Gesellschaften und großer Flächenstaaten lassen sich diese Modelle nur schwer übertragen. Sie halten auch nur schwer dem stand, was die meisten (nicht nur im Westen) heute als Minimalanforderung an Demokratie geltend machen würden: die formelle Gleichheit der Geschlechter und überhaupt aller Staatsbürger; oder die Herrschaft auf Zeit mit der Möglichkeit der Abberufung. Es mag sogar kein Zufall sein, dass die politische Ordnung der Irokesen gerade von Deutschen, von Johann Gottfried Herder bis Friedrich Engels, idealisiert worden ist, spiegelte sich darin doch die Überzeugung vieler Deutscher, ihnen selbst sei die «westliche» Demokratie kulturell wesensfremd. Daran glaubt heute fast niemand mehr. Aber schon wegen dieser historischen Erfahrung, die viel zum Aufstieg der NS-Diktatur beigetragen hat, sollten Deutsche besonders vorsichtig sein, andere Kulturen als der Demokratie nicht zugänglich zu beschreiben.
    Damit sind auch schon einige Indizien für die zweite Perspektive: den systematischen Zugang auf die gestellte Frage, zusammengetragen. Man könnte nach der Entbehrlichkeit einzelner Komponenten der repräsentativen Demokratie fragen, oder nach einem funktionalen Ersatz für sie. Ein Parlament lässt sich durch andere Wahl- und Beratungsgremien ersetzen – aber dann ist die Frage, ob am Ende nicht nur der Name anders ist. Warum soll in einer afghanischen Demokratie das Parlament nicht Schura heißen, so wie man in Deutschland auch im 19. Jahrhundert von den «Ständen» sprach; wie man in Russland Duma und in Polen Sejm sagt? An die Stelle der Repräsentation lassen sich plebiszitäre Verfahren setzen, doch hat sich das für den Alltagsbetrieb moderner Gesellschaften als unpraktisch herausgestellt, wenn es zum überwiegenden Entscheidungsprinzip für Streitfragen wird. Politische Ämter könnten durch Los statt durch Wahl besetzt werden. Man könnte das Mehrheitsprinzip durch Einstimmigkeit ersetzen – dafür gibt es immer wieder Beispiele: zum Beispiel den EU-Ministerrat bis zum Vertrag von Nizza, doch war das in einem größeren Gremium, in der Erweiterung der Europäischen Union, nicht mehr praktikabel. EineDemokratie ohne Parteien, oder mit bloß lockeren Gruppierungen, ist durchaus vorstellbar; manche würden sagen: in Ländern wie Italien schon Realität. Die Frage ist dann, wie unterschiedliche Interessen ausgedrückt und gebündelt werden. Insgesamt also: Das eine oder andere Puzzleteil der Demokratie ist verschiebbar, möglicherweise sogar ersetzbar. Das ganze Bild sieht am Ende aber kaum anders aus, jedenfalls dann nicht, wenn man fundamentale Prinzipien nicht mit verrücken will, auf denen die repräsentativ-parlamentarischen Institutionen beruhen – an erster

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