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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Verfallsgeschichten von Öffentlichkeit idealisieren oft einen Zustand um 1750, der mit Demokratie in unserem Sinne noch gar nicht viel gemein hatte. Auch die Inkorporierung des öffentlichen Prinzips in die demokratischen Institutionen, vor allem ein Produkt des 19.Jahrhunderts, darf man nicht unterschätzen: öffentliche Parlamentssitzungen; Gerichtsverfahren, aus denen die Öffentlichkeit nur mit guten Gründen ausgeschlossen werden darf. Öffentlichkeit ist nicht eine Sache der Gesellschaft gegenüber dem Staat geblieben, sondern wird dem demokratischen Staat selber abgefordert, durchaus im wörtlichen Sinne der alten «res publica». Die Veröffentlichung politisch-diplomatischer Geheimdokumente durch WikiLeaks ist dafür nur ein weiteres Indiz (auch wenn sie aus anderen Gründen sehr problematisch sein mag). Vor allem aber ist die Öffentlichkeit immer wieder, und keineswegs nur in westlichen Ländern, ein Motor der Demokratisierung gewesen. Deshalb ist es eine besonders spannende Frage, ob die Volksrepublik China in ihrer immer offeneren Gesellschaft auch eine Öffentlichkeit zulässt – und welche Ansprüche auf politische Demokratie daraus erwachsen würden.
12 Jenseits der repräsentativen Demokratie?
    Trotz einer Geschichte von mindestens zweihundert Jahren, die inzwischen auch rund um den Erdball reicht, hat sich an der Praxis von Demokratie in vieler Hinsicht erstaunlich wenig geändert. Besonders der institutionelle Kern der repräsentativen Demokratie aus Wahlen, Parteien und Parlament ist auffällig stabil geblieben – in einem gesellschaftlichen Umfeld, das sich in fast jeder Hinsicht rasant verändert hat. Im englischen Parlament des 16. Jahrhunderts würden wir uns im frühen 21. Jahrhundert zwar nicht so leicht wiedererkennen, wohl aber in Parlamenten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, sei es in der französischen Nationalversammlung 1790, dem amerikanischen Repräsentantenhaus1810, oder der württembergischen Ständeversammlung 1830. Umgekehrt würden Zeitgenossen von damals, auf eine Zeitreise zu uns geschickt, heutige Wahlkämpfe ebenso noch wiedererkennen wie das Grundmuster vieler Debatten, wenn sie nur erst einmal den Schock moderner Verkehrsmittel und des Internets verkraftet hätten – und den eines aus ihrer Sicht unvorstellbar egalitären Lebensalltags.
    Hinter dieser institutionellen Stabilität verbergen sich viele Variationen, in zeitlicher ebenso wie in räumlicher Hinsicht. Ein präsidentielles System funktioniert anders als ein parlamentarisches; die Unterschiede zwischen der britischen und der amerikanischen Politik sind heute mindestens so groß wie um 1800. Nationale und kulturelle Traditionen setzen sich nicht nur in Kultur und Mentalitäten fort, sondern auch in den Institutionen, nicht selten auch aus vordemokratischer Zeit. Dass der deutsche Regierungschef «Kanzler» heißt, wie ursprünglich der Leiter der königlichen Verwaltung im Hochmittelalter, ist ein solches Relikt. Historiker und Politikwissenschaftler verwenden mit Recht viel Energie darauf, diese Variabilität der Demokratie bis in ihre Verästelungen zu verfolgen. Aber die umgekehrte Perspektive lohnt ebenfalls das Nachdenken, weil die prinzipielle Ähnlichkeit und die institutionelle Beharrlichkeit der demokratischen Systeme letztlich doch frappierend sind.
    Man kann dieser Frage historisch oder systematisch begegnen. Historisch würde man festzustellen versuchen, in welchen Situationen die Frage demokratischer Verfassung kontrovers diskutiert worden ist, wann Alternativen einer anders verfassten Demokratie sichtbar wurden, und warum sich diese möglicherweise nicht durchsetzen konnten. +Im späten 18. Jahrhundert war die repräsentative Demokratie, wie wir gesehen haben, noch nicht selbstverständlich, weil sich beides in einer älteren Vorstellungswelt geradezu gegenseitig ausschloss; Demokratie konnte nur die direkt, ohne Repräsentanten, ausgeübte Herrschaft des Volkes sein. Aber schon im Vollzug der Revolutionen in Amerika und Frankreich etablierte sich das parlamentarische Modell, gewissermaßen als eine praktische Widerlegung solcher Theoretiker, die noch an ihrem Schreibtisch über den antiken Verfassungsmodellen grübelten. Ob dabei der revolutionären Dynamisierung, der Neuheit einer «1789» – wie man oft abgekürzt sagt –

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