Was ist Demokratie
Stelle das Prinzip der gleichen Freiheit.
Die Frage nach einer anderen institutionellen Gestalt, nach einem alternativen Baumuster der Demokratie erinnert an das naturwissenschaftliche Problem der Bauformen des Lebens: Hätte sich Leben auf der Erde auch ganz anders entwickeln können; sieht Leben auf fernen Planeten völlig anders aus? Andere chemische Elemente existieren aber, soweit wir wissen, im Universum nicht, und die meisten Wissenschaftler halten es für sehr wahrscheinlich, dass auch auÃerhalb der Erde entwickelte Lebensformen auf Kohlenstoffchemie und Wasser beruhen würden. Ãbersetzt heiÃt das: Geht man von Freiheit und Gleichheit aus, soll politische Führung nur auf Zeit vergeben werden und jederzeit kritisierbar sein; will man damit nicht nur Dörfer, sondern viel gröÃere Gemeinschaften, «Staaten» organisieren â dann wird man auf Verfahren und Institutionen stoÃen, die mit der repräsentativen Demokratie zumindest groÃe Ãhnlichkeit haben.
Damit ist die Demokratie weder zwangsläufig noch ein menschenunabhängiges Schicksal. Aber ihr scheint eine Doppelnatur eigen zu sein: Sie ist ein Produkt der Geschichte; sie ist entstanden und kann auch wieder vergehen; sie ist also «historisch kontingent». Zugleich ist sie mehr als nur eine zufällige Regierungsform unter anderen. Sie ist mit einer elementaren Freiheitssehnsucht der Menschen verbunden, die keine kulturellen Grenzen kennt. Genau deshalb wird die Suche nach einer anderen oder besseren Demokratie wahrscheinlich auch nie aufhören.
V Expansionen
Demokratie ist immer in Bewegung. Am Ende des 18. Jahrhunderts stand sie nicht als zeitloses Fertigprodukt von Revolutionen zur Verfügung, sondern nur in ersten Anfängen, in embryonaler Form. Aber jetzt konnte das Versprechen von freier Verfassung, von gleicher politischer Beteiligung mit einer ungleichen Wirklichkeit verglichen und Stück für Stück eingeklagt werden: für Frauen und Männer, für WeiÃe und Schwarze, für Arbeiter und Bürger. So begann im frühen 19. Jahrhundert eine lange Expansionsphase der Demokratie. Ein Selbstläufer des Fortschritts war das jedoch nicht. Menschen mussten sich engagieren und organisieren, mussten in heftigen Konflikten Widerstand überwinden und manchmal Rückschläge hinnehmen. Was Demokratie einmal sein würde, war noch nicht in den Stein der Anfänge gemeiÃelt. Erst im Laufe der Zeit, auch noch im 20. Jahrhundert, kamen neue Dimensionen zum Vorschein, oft unter dem Druck sozialer Bewegungen oder des gesellschaftlichen Wandels. In solcher Expansion erfüllte sich der Anspruch von Demokratie, und zugleich wurde sie stets neu erfunden.
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1 Demokratie nach Besitz:
Das Zensuswahlrecht
Allgemeines und gleiches Wahlrecht: Diese demokratische Grundformel klingt auch am Beginn des 21. Jahrhunderts noch manchmal nach, aber ihre historische Bedeutung ist immer mehr in den Hintergrund getreten. Dabei gelang die Ãberwindung des Apartheid-Regimes in Südafrika, das die Bevölkerung nicht-europäischer Herkunft weithin von der politischen Partizipation ausschloss, erst in den 1990er Jahren, und die Erinnerung an den Kampf um das Frauenstimmrecht wirkte auch in der modernen Frauenbewegung noch lange nach. Aber selbst in den Ländern, die sich der längsten demokratischen Tradition rühmen wie England, Frankreich und die USA, durften mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht einmal alle Männer zur Wahl gehenund somit über die Zusammensetzung des nationalen Parlaments mitentscheiden. Aus einer Tradition, die in das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit zurückreichte, genossen nur jene Männer das Wahlrecht, die eine bestimmte Schwelle des Besitzes oder der Steuerkraft überschritten. Diese ökonomische Hürde der politischen Berechtigung nennt man einen Zensus, das entsprechende Wahlrecht ein Zensuswahlrecht. Manchmal durften ärmere Bürger zwar wählen, aber ihre Stimme zählte weniger als die der vermögenderen Bürger, weil die Wähler nach ihrer Steuerkraft in unterschiedliche Kategorien eingeteilt wurden. Dann war das Wahlrecht ungleich, ein Klassenwahlrecht.
Schon in der Antike konnte der Status eines Bürgers mit seinen vollen politischen Rechten an ökonomische Kriterien gebunden sein. Das wurzelte in einer bestimmten Auffassung von Freiheit. Wer nach seinem
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