Was ist Demokratie
persönlichen Status unfrei war â im Extremfall: als Sklave â, konnte nicht nur kein Eigentum bilden, sondern auch keine anderen Rechte, keine aktive politische Freiheit, genieÃen. Wer persönlich frei war, aber ohne Landbesitz, Handelskapital oder anderes Vermögen, war für seinen Broterwerb in der Regel von anderen abhängig: etwa als Knecht, als Tagelöhner, als Geselle im Handwerk. Politische Beteiligung aber setzte nach dem Verständnis der meisten vormodernen Gesellschaften die persönliche «Selbstständigkeit» voraus.
Mit diesem Begriff, der in den deutschen Wahlrechtsdebatten des frühen 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte, war zuallererst eine unabhängige Grundlage der ökonomischen Existenz (der «Subsistenz») gemeint; nicht nur für sich selber, sondern für eine Familie mit Ehefrau und Kindern. Im weiteren Sinne assoziierte diese Selbstständigkeit eine grundlegende Bildung und Urteilsfähigkeit, eine Unabhängigkeit der eigenen Meinung. Wer für seinen Lebensunterhalt von anderen abhängig war, der war auch in seinem politischen Verhalten â so wurde argumentiert â nicht unbestechlich, denn er konnte sich buchstäblich seine Stimme abkaufen lassen. Ãkonomische Selbstständigkeit und ein gewisses Vermögen waren aber in Deutschland bis in das 19. Jahrhundert auch nötig, um das volle Bürgerrecht in der eigenen Gemeinde in Anspruch nehmen zu können, um also Bürger von Mannheim oder Magdeburg zu sein und die damit verbundenen Privilegien â politische, wirtschaftliche und soziale Rechte â in Anspruch zu nehmen. Weil das Wahlrecht zum Parlament wiederum an diesen Kommunalbürgerstatus geknüpft sein konnte, ergab sich so zugleich eine Besitzschranke, einZensus. Das Selbstständigkeitskriterium wirkte lange nach: Bis 1918 blieben in Deutschland Empfänger öffentlicher Armenunterstützung â heute wären das Sozialhilfe- und «Hartz IV»-Empfänger â vom Wahlrecht ausgeschlossen.
Besitz und Vermögen konnte man in verschiedenen Formen nachweisen, doch an erster Stelle stand historisch der Landbesitz, nicht das bewegliche, «kapitalistische» Vermögen. Der Wahlzensus für das englische Parlament beruhte seit dem 15. Jahrhundert auf freiem Grundbesitz, auf einem «freehold» im Werte von 40 Schilling. Auch noch im amerikanischen und französischen Zensus des frühen 19. Jahrhunderts bildete der Landbesitz oft den privilegierten Zugang zum Wahlrecht. Das lag zuallererst an der langen Tradition und dem ökonomischen Ãbergewicht der agrarischen Gesellschaft. Damit verknüpfte sich die Vorstellung von einer besonderen Stabilität und Vertrauenswürdigkeit, die der immobile Besitz gewährleistete und die sich gewissermaÃen auch in politische Vertrauenswürdigkeit übersetzte. Um 1800 versuchten manche, wie der Osnabrücker Jurist Justus Möser, diese Tradition mit der aufgeklärten Vertragstheorie des Staates zu verbinden, indem sie den Staat als einen Vertrag der Grundbesitzer definierten. Ein ähnliches Denken prägte auch die Plantagenbesitzer und Sklavenhalter in den amerikanischen Südstaaten bis zum Bürgerkrieg. Allmählich aber drangen moderne, kapitalistische Kriterien vor, die den Zensus vom Landbesitz lösten und allgemein an Vermögen und wirtschaftliche Fähigkeit banden. Dann war das Kriterium die Steuerkraft, eine bestimmte Summe der jährlichen Steuerzahlung. Diesen Ãbergang vom Landbesitz- zum Steuer-Zensus vollzogen viele der neuen amerikanischen Staaten wie Pennsylvania oder New Hampshire während der Revolution, in den 1770er und 1780er Jahren. Für eine Ãbergangszeit wurde der Zensus also kapitalistischer und Ausdruck einer «Plutokratie», einer Herrschaft der Reichen, als die man dieses Wahlrecht im 19. Jahrhundert häufig kritisierte.
Ein klassisches Beispiel für das Zensuswahlrecht und seine Wirkung ist Frankreich. Nach dem Fall Napoleons wurde die Monarchie der Bourbonen restauriert. Hinter Verfassung und Parlament als Errungenschaften der Revolution führte kein Weg mehr zurück. Aber die Verfassung â die «Charte constitutionelle» von 1814, die der «konstitutionellen Monarchie» den Namen gab â gründete nicht auf Volkssouveränität, und die Nationalversammlung nicht auf dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Das
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