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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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pfeife anerkennend. Auch wenn ich die ganzen Zahlen jetzt schon wieder vergessen habe.
    Flo grinst in den Rückspiegel. Judith sitzt daneben und sagt nichts.
    Â»Und du, Judith, kommst du auch von hier?«
    Â»Ja.«
    Â»Ich meine, hier aus Renderich?«
    Â»Ja.«
    Die redet wohl nicht so gerne. Was man von Flo nicht gerade behaupten kann.

    Â»Judith und ich sind vor einem Jahr zusammengezogen«, klärt er mich auf, »bei meinen Eltern im Haus, wir haben uns da eine ganze Etage ausgebaut, ist richtig schön geworden. Aber es gibt immer noch einiges zu tun, was, Spatz?«
    Â»Ja«, sagt Judith.
    Wir überqueren einen schmalen Bach, biegen rechts ab auf eine etwas breitere Straße, fahren ein paar Hundert Meter den Hügel hinauf, einmal links, einmal rechts in die Straße »Im Wingert« und dann in die Einfahrt eines dunklen Bruchsteinhauses. Flo parkt den Wagen vor einer langen Reihe von Gitterboxen aus Metall, die mit leeren Weinflaschen gefüllt sind.
    Â»So. Herzlich willkommen auf der Festung Arend«, sagt er. Es ist das dritte Mal in zwanzig Minuten, dass er »Herzlich willkommen« sagt.

    Â»Darf ich vorstellen: meine Mutter. Mama, das ist Meise.«
    Â»Meise, das ist aber ein komischer Name.« Frau Arend stellt die Gießkanne ab und streckt mir ihre rechte Hand entgegen.
    Â»Ist ein Spitzname«, sage ich zum ungefähr tausendsten Mal in meinem Leben und schüttle ihr die Hand. »Eigentlich Tobias Meissner.«
    Â»Aha. Aber Sie haben hoffentlich keine Meise?«
    Â»Nicht dass ich wüsste«, antworte ich zum mindestens tausendsten Mal in meinem Leben und lächle.
    Â»Na, dann ist ja gut!«
    Ein großer brauner Hund kommt langsam aus dem Haus geschlurft. Er sieht alt und müde aus.

    Â»Und das ist Susi. Susi, das ist Herr Meissner aus Berlin. Berlin ist doch richtig, oder?«
    Â»Ja, genau.«
    Susi blickt mit trüben Augen in meine Richtung und wackelt dann langsam Richtung Rasen, wo sie sich in das letzte Fleckchen Sonne legt. Sie scheint sich nicht besonders für neue Gäste zu interessieren. Sie scheint außerdem demnächst zu sterben.
    Â»Tja, unsere Susi weiß noch, wie man den Feierabend genießt!«, sagt Frau Arend und lacht. Sie sieht sehr freundlich aus. Genaugenommen sieht sie aus, wie das Wort »Mama« klingt, nach Geborgenheit und Güte, und unter ihrem Kittel zeichnet sich ein riesiger Busen ab, der aussieht, wie das Wort »Busen« klingt, mit tiefem »uuuu«. Mit diesem schweren Gerät hat sie bestimmt schon viele kleine Menschen groß und stark gemacht.
    Â»Hast du eigentlich Geschwister?«, frage ich Flo, als seine Mutter im Haus verschwunden ist, um die Schlüssel für die Ferienwohnung zu holen.
    Â»Zwei ältere Brüder. Die wohnen aber beide nicht mehr hier. Einer ist in Koblenz und einer in Trier. Mit Weinbau haben die aber beide nichts zu tun. Der eine ist Anwalt, und der andere macht in Orthopädietechnik. Als ich auch noch zum Studieren weggezogen bin, waren meine Eltern am Boden zerstört. Dieses Gut hier ist jetzt nämlich seit fast 120 Jahren in Familienbesitz. Alles, das ganze Grundstück. Das Haus ist Marke Eigenbau. Hat mein Urgroßvater gebaut, inklusive Weinkeller. Wir wollten das alle nicht weiterführen, meine Brüder nicht und ich auch nicht. Meine Eltern dachten wirklich, jetzt ist es vorbei, nach 493 Jahren.«
    Â»493 Jahre?«

    Â»Ja. So lange wird in unserer Familie schon Wein angebaut.«
    Â»Also seit … äh … 1516?«
    Â»Ja. Vielleicht sogar noch länger.«
    Â»Wahnsinn.«
    Â»Ja, gell? Ich bin nach dem Abi nach Köln gezogen und habe ein paar Jahre studiert, Englisch und Sport auf Lehramt, aber das war nix für mich. Außerdem hat mir die Ruhe hier wirklich gefehlt. Von Judith und meinen Eltern mal ganz zu schweigen. Meine Eltern waren natürlich selig, als ich zurückgekommen bin und in Bernkastel die Ausbildung zum Winzer begonnen habe. Tja, und dieses Jahr habe ich sie dann beendet.«
    Flo sieht mich an, als würde er auf eine Reaktion von mir warten.
    Â»Ja?«, sage ich.
    Â»Ja«, sagt er. »Mit Einser-Schnitt.« Er stülpt die Lippen nach innen über die Zähne und beißt sie zusammen, als könnte er so sein Strahlen einigermaßen im Zaum halten. Es ist ein Blick, den ich von Verena kenne, so eine Mischung aus Stolz und Bescheidenheit, eine unhysterische Art

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