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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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Sonntagsgottesdiensts angegeben.
    Ein dicker Junge in einem roten T-Shirt fährt auf einem kleinen Platz auf einem großen roten Damenfahrrad im Kreis und macht dabei mit seinem Mund Maschinengewehrgeräusche.
    Flo drosselt das Tempo und fährt langsam durch das Dorf. Wir befinden uns auf der Hauptstraße, zumindest steht das auf einem Straßenschild. Die sogenannte Hauptstraße ist so schmal, dass Flo den Wagen auf den ebenso winzigen Bürgersteig lenken und anhalten muss, als uns ein anderes Auto entgegenkommt. Während wir warten, grüßt er den Mann in dem alten Ascona mit einem kurzen Kopfnicken. Der Mann tippt sich an den Hut. Ein Jägerhut.
    Â»Der alte Petry. Kollege von meinem Alten. Hat mich früher mal vor dem Ertrinken im See gerettet. Seine Frau ist letzten Winter auf den vereisten Kellertreppenstufen ausgerutscht und hat sich das Genick gebrochen. Sofort tot. Es gibt Leute, die behaupten, dass sie nicht von alleine ausgerutscht ist. Da gab’s wohl kurz zuvor einen üblen Ehestreit.«
    Â»Ach was«, sage ich.
    Â»Na ja, nur Gerüchte. Geht ja schnell hier auf dem Dorf«, sagt Flo.
    Â»Hm«, sage ich.
    Â 
    Enge Gassen führen an Fachwerkhäusern vorbei steil den Hügel hinauf. Alles ist krumm und schief, nichts quadratisch. Die meisten Straßenschilder sind geschnitzt. Es riecht nach verbranntem Holz.
    Â»Renderich hat eine über tausendjährige Geschichte und heute ungefähr 1300 Einwohner. Das sind weniger als hundert Einwohner pro Quadratmeter. Es gibt auch Orte hier
an der Mosel, die sind noch weniger dicht besiedelt. Aber wir haben hier ja auch nicht so viel Platz zwischen Hügel und Fluss.« Flo lacht.
    Â»Stimmt«, sage ich und lache ein bisschen mit.
    Â»Achtzig Prozent katholisch. Wir haben aber auch eine kleine evangelische Gemeinde. Es gibt zwei Bushaltestellen und keine Ampel, nur die an der Bundesstraße. Gut vierzig Winzerbetriebe, geschätzte fünfhundert Gästebetten und fünfundzwanzig Gaststätten. Plus Straußwirtschaften.«
    Â»Straußwirtschaften?«
    Â»Das sind quasi Kneipen, die nur ein paar Monate im Jahr aufmachen dürfen.«
    Â»Ach so.«
    Ob er sich diese Informationen extra reingebüffelt hat, um mir ein guter Fremdenführer zu sein? Ich kann mir Zahlen nicht merken. Deswegen war ich so schlecht in Mathe, und in Geschichte auch. Ich werfe alles durcheinander, und ob jetzt eine Burg von 1779 ist oder von 1879, ob die Staatsverschuldung bei soundso viel Millionen oder soundso viel Milliarden liegt, das sagt mir nichts, ist für mich alles dasselbe. Oder das Gleiche. Den Unterschied zwischen »dasselbe« und »das Gleiche« kenne ich nämlich auch nicht. Hat man mir schon zigmal erklärt, aber es hat keinen Zweck, ich vergesse es immer wieder. Ich vergesse allgemein ziemlich viel.
    Ã„tzend eigentlich.
    Das Ätzendste auf der Welt ist, etwas nicht zu wissen, aber zu wissen, dass man es schon mal wusste. Noch ätzender ist es, wenn persönliche Erinnerungen betroffen sind. Ich kann mich zum Beispiel nicht mehr an mein erstes Mal erinnern. Oder was für einen Wagen ich in der Fahrschule gefahren habe. Von der Klassenfahrt nach Prag mit siebzehn weiß ich auch kaum noch was. Nur dass ich auf dem
Wenzelsplatz mit Nora Böhm geknutscht habe und wir nachts heimlich im Frühstücksraum des billigen Vorstadthotels rumgemacht haben, wo alle Tische und Stühle mit einer klebrigen Folie versiegelt waren.
    Manche meiner Kindheitserinnerungen bestehen nur noch aus zusammenhangslosen Fetzen, oft Dinge, die meine Mutter oder meine Schwester mir nachträglich erzählt haben. Wie die Geschichte, als ich Radfahren gelernt habe. Ich hatte erst gar nicht gemerkt, dass meine Mutter nicht mehr hinter mir war und mich anschob. Als ich bemerkte, dass ich alleine fuhr, bekam ich Panik, weil ich nicht wusste, wie ich bremsen sollte. Also bin ich geradewegs auf eine Hauswand zugesteuert, extra. Ich habe Bilder dazu im Kopf, das kleine Fahrrad, die große Hauswand, meine Mutter, ich als kleiner Steppke mit Schürfwunde, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob das meine eigene Erinnerung ist oder nur eine Erinnerung an die Erinnerung, eine Art Film, den ich mir aus den Erzählungen meiner Mutter gebastelt habe, und der jetzt vor meinem geistigen Auge abläuft.
    Umso beeindruckender ist Flos Fremdenführerprogramm. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben und

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