Was kostet die Welt
Aschenbecher finde, schnippe ich die Kippe im hohen Bogen vom Balkon. Mit einem groÃen Funkenregen verschwindet sie hinter der groÃen Hecke, die die Festung Arend vom Nachbargrundstück trennt.
5
Das Kellergewölbe würde ein prima Ambiente für einen Horrorfilm hergeben. An der niedrigen Decke hängt eine einsame Glühbirne, die einen Kegel trübes Licht in den düsteren Raum schickt.
Millimeterdicke Staubschichten bedecken Hunderte von grünen und braunen Weinflaschen, die in den Holzregalen lagern. Die älteste ist von 1914. Ich fühle mich, als hätte jemand einen Sepia-Effekt auf meine Augen gelegt.
In der Luft hängt ein schwerer Duft, muffig und alt, aber trotzdem nicht schlecht. Alles ist voller Spinnweben, der Backstein an den Wänden mit schwarzem Schimmel überzogen. Ein spezieller Schimmel, den es nur dort gibt, wo Wein gärt.
»Der ist wichtig fürs Klima«, sagt Flo und fährt mit der Zunge erst über seine Ober-, dann über die Unterlippe, als wären sie aus Eiscreme. Das hat er in New York auch immer gemacht.
»Wow«, sage ich. Unsere Stimmen hallen kurz nach, was der Atmosphäre etwas sehr Sakrales verleiht.
In der Mitte des Raums stehen zwölf riesige Eichenfässer, mächtig und erhaben wie Altäre in der Kirche. Jedes einzelne fasst tausend Liter Wein.
»Im Moment ist natürlich kein Wein drin, nur Wasser und Schwefel, damit das Holz nicht anfängt zu schimmeln. Wir haben zusätzlich noch ein paar Edelstahltanks. In den
USA benutzen sie fast nur noch Edelstahltanks. Teilweise kippen die da Eichenholzchips rein, damit der Wein den Geschmack eines Eichenholzfasses annimmt. Auch künstliche Aromen sind da gang und gäbe. Hier ist das verboten. Zum Glück.«
Ich dackel hinter Flo und Judith her wie ein Praktikant bei der Einweisung in den Betrieb. Judith sagt keinen Ton, aber Flo hat den ungestümen Mitteilungsdrang des enthusiastischen Berufsanfängers. Beim Durchschreiten der verschiedenen Kellerräume sprudelt er förmlich über.
Es geht um den Weinanbau im Allgemeinen und den Moselwein im Besonderen, um die Römer, die schon kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung damit anfingen, hier Wein anzubauen, um die steilen Südhänge der Mittelmosel und um die Wärmespeicherung des Bodens, um Mineralien und Schiefer, und dass sie hier wegen dieser Voraussetzungen nur Riesling anbauen.
Ich erfahre alles über Rebwachstum, Holzwachstum, die phänologischen Stadien, über Knospen, Sprossen und Blätter, den Unterschied zwischen Gescheinen und Trauben, über Blüten, Blütenkäppchen und Beeren, über Drahtrahmenerziehung, Einzelpfahlerziehung, Umkehrerziehung, Silvioerziehung, Jocherziehung, Vertikoerziehung nach Kraus und Vertikoerziehung nach Cargnello, das Trierer Rad, Flach-, Halb- und Pendelbogen, über den Wasserhaushalt und die Atmung der Weinrebe, die Prinzipien von Osmose, Kapillarität und Transpiration, über Assimilatproduzenten und Assimilatverbraucher, den Zusammenhang von Photosynthese, Kohlendioxid und Wasser, über Ethanol, Tannin und Apfelsäure, über Most und Maische, Trester und Restzucker, über das Keltern, die verschiedenen Gärmethoden, den Zusammenhang zwischen SüÃe und Alkoholgehalt,
über Ãchslegrade, Zucker und Reife, über den Unterschied zwischen Qualitätswein und Prädikatswein, über Aroma und Alterung, über die einträglichen Nebenprodukte Brennwein, Weinbrand, Weinessig und Grappa, über Hefen und Brennlizenzen, über Destillation, Ethylacetat und Glycerin, den konventionellen Weinbau und den ökologischen Weinbau, über effektiven Rebschnitt, die Flurbereinigung der letzten zwanzig Jahre, die Reblaus, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus Amerika eingeführt wurde und den Weinbau beinahe zum Erliegen brachte, nicht zu verwechseln mit der Raubmilbe, die wiederum ein nützlicher Schädlingsbekämpfer ist, über echten und falschen Mehltau, den roten Brenner, über den Unterschied zwischen Agraralkohol und Brennalkohol, das Branntweinmonopol des Staates, über die Vor- und Nachteile von Natur- und Plastikkorken, über Patentrechte und EU-Bestimmungen.
Ich verstehe so gut wie nichts von dem, was er mir erzählt. Und wenn doch, so muss die gerade aufgenommene Information schon der nächsten weichen, noch bevor ich sie richtig abspeichern konnte. Ich versuche wirklich zuzuhören, aber
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