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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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von Freude.
    Â»Der Hof ist schon auf mich überschrieben, weil mein Vater seit diesem Jahr offiziell in Rente ist. Aufhören zu arbeiten will er allerdings nicht. Der ist mit Leib und Seele Winzer, den kriegste nicht von seinen Trauben weg.«
    Frau Arend kommt mit dem Schlüssel aus dem Haus, und jetzt kann ich auch verstehen, warum sie so glücklich und zufrieden, ja geradezu erleichtert aussieht. 493 Jahre. Das muss man sich mal vorstellen. Eine der wenigen Jahreszahlen, die ich mir merken kann, ist 1492. Amerika war gerade erst entdeckt, als die Arend-Sippe begann, ein Getränk
aus Trauben herzustellen. Jetzt sind sie dem Tode der Familientradition gerade nochmal so von der Schippe gesprungen und können sich auf die 500-Jahre-Weinbaufeier in ein paar Jahren freuen.

    Â»So, da sind wir. Vier Gästewohnungen haben wir hier, alle jeweils ein Zimmer mit Dusche und einer kleinen Küchenzeile, das hatte mein Sohn Ihnen ja gesagt, oder?«
    Â»Ja, genau.«
    Frau Arend öffnet die Haustür der Ferienwohnung, die sich in einem Nebengebäude direkt am Weinberg befindet. Ich folge ihr durch den Flur.
    Â»Die beiden Wohnungen hier im Erdgeschoss haben wir Anfang des Jahres erst komplett renoviert und neu eingerichtet«, sagt Frau Arend. »Das wollen wir mit allen Wohnungen machen, nach und nach. Immer einen Schritt nach dem anderen, gell.«
    Als sie die Wohnungstür aufschließt und wir die kleine Küche mit drei Schritten durchquert haben, trifft mich fast der Schlag. Der Raum ist der Horror. Ein Gemach des Grauens. Ein Zimmer gewordener Alptraum. Ein Sammelsurium innenarchitektonischer Stilbrüche. Ein ästhetischer Super-GAU zwischen lächerlich und beklemmend.
    Â»Ich denke, Sie finden sich zurecht, gell? Wenn Sie eine Frage haben, wissen Sie ja, wo Sie uns finden.«
    Â»Ja«, sage ich. »Danke.«
    Sie schließt leise die Tür hinter sich. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
    Die Wände sind in Schwammtechnik gestrichen. Pastell, Rost, Terrakotta oder was weiß ich, wie das heißt. Blasse
Erdfarben mit gelegentlich eingeworfenen Orangetönen. Lila-weiß gemusterte Vorhänge, grinsende blaue Fische als Girlande im Fenster, quietschgelbe Teelichte auf der Fensterbank. Unter der Decke hängen an langen dünnen Streben aus Edelstahl mehrere kleine Lämpchen. Auf dem Parkettboden vor dem Bett liegt ein kleiner beigefarbener Teppich. Es gibt eine orangefarbene Couch und einen runden Glastisch. Darauf liegt, drapiert von Schleifchen und verwelkten Blättern aus Plastik, ein herzförmiger Stein mit einem eingravierten Spruch: »Liebe ist das Bewusstsein, Freude zu geben und zu empfangen«.
    Ãœber das Bett ist ein weißes Tuch gespannt, das aussieht wie ein altes Brautkleid. Soll wohl Himmelbettflair erzeugen. An der Wand hängt eine gerahmte Postkarte, die einen roten Stein an einem Sandstrand zeigt. Um den Stein herum sind Kreise in den Sand gezogen. »Das, was vor uns liegt, und das, was hinter uns liegt, ist nichts verglichen mit dem, was in uns liegt« steht darüber. Es ist dieselbe Schrift wie auf den Beerdigungseinladungen meines Vaters.
    In der Glasvitrine finde ich eine weitere dieser gruseligen Karten. »Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand.« Daneben ein sichelförmiger Mond über einem ruhigen Meer.
    Es läuft mir eiskalt den Rücken runter. Hier kann ich auf keinen Fall bleiben.
    Ein paar Minuten lang laufe ich rat- und rastlos im Zimmer auf und ab, gefangen zwischen Unverständnis und Ekel, und überlege fieberhaft, wie ich aus der Nummer rauskomme, ohne dass es für alle Beteiligten zu peinlich wird.

    Â»Hey Flo!«
    Â»Na, schon eingecheckt?«
    Â»Ã„h, ja. Also, fast. Sag mal, sind die anderen Ferienwohnungen eigentlich alle belegt?«
    Â»Nein, nur zwei, soweit ich weiß. In der einen bist du, in der anderen sind die Fahrradfahrer aus Karlsruhe. Die anderen beiden müssten frei sein. Wieso? Stimmt was nicht mit dem Zimmer?«
    Â 
    Ja, tatsächlich, es stimmt etwas nicht damit. Und ich kann dir auch sagen, was: alles. Das ist das absolut widerwärtigste Zimmer, das ich je gesehen habe. Ich würde lieber draußen im Weinberg übernachten, als nur eine weitere Minute da drin zu verbringen.
    Die Wände! Der Boden! Das Bett! Die Vorhänge! Und diese unfassbaren Postkarten!
    Gib mir sofort ein anderes Zimmer, sonst krieg ich noch Herpes.
    Â 
    Â»Nein,

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