Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
Vom Netzwerk:
uns auf diesen Fahrten vor Lachen die Bäuche gehalten. Irgendwo am Mississippi zwischen Baton Rouge und New Orleans fuhr Verena tatsächlich mal rechts auf den Seitenstreifen, weil wir nicht mehr geradeaus gucken konnten. Ich weiß nicht mehr, worüber genau wir lachten. Wahrscheinlich wussten wir in dem Moment selbst nicht mehr, was der ursprüngliche Auslöser gewesen war. Und das ist ja das Beste: wenn sich alles so verselbstständigt. Wenn das Hirn überlistet wird, man sich einfach gehen lässt und keine Albernheit zu peinlich ist, weil Albernheit und Peinlichkeit als Koordinaten keine Rolle mehr spielen.
    Was für eine Reise. Ich kann mich nicht daran erinnern, während der neun Wochen mit Verena auch nur ein einziges Mal schwere Schultern gehabt zu haben.
    Â 
    Â»Piss nicht daneben, du altes Schwein, der Nächste könnte barfuß sein.«
    Das geschnitzte Schild über dem Pissoir würde Eduardo gefallen. Nach dem Froschbild und dem Toilettenaschenbecher ist das schon der dritte humoristische Urin-Bezug in diesem Etablissement. Familie Schäfer scheint ein gewisses Faible für das Thema Urin zu haben. Wahrscheinlich wird jedes Wochenende ein Familienmitglied losgeschickt, um die Flohmärkte der Umgebung nach passenden Accessoires zu durchstöbern.

    Â»Aber komm mir ja nicht ohne irgendwas mit Urin nach Hause, Dennis!«
    Â 
    Auf dem Weg zurück ziehe ich eine Schachtel Zigaretten. Zur Sicherheit. Man weiß hier ja nie, wann und wo man als Nächstes welche bekommt. Diesmal muss ich mit Marlboro Lights vorliebnehmen, denn auch dieser Automat bedient eher die Nachfrage von Mitbürgern, die bereits im Ersten Weltkrieg mit dem Rauchen angefangen haben. Weit und breit keine Benson & Hedges, auch nicht die goldenen. Nicht mal rote Gauloises haben sie hier. Habe ich in den letzten zehn Jahren schon mal einen Zigarettenautomaten ohne rote Gauloises gesehen?
    Als ich mich wieder setze, räumt Dagmar gerade meinen Tisch ab.
    Â»Hat’s geschmeckt?«, fragt sie.
    Â»Sehr gut«, sage ich.
    Ich glaube nicht, dass ich auf die Frage schon mal was anderes geantwortet habe. Mein Kumpel Itchy dagegen hat mal zu einer Kellnerin gesagt: »Da hab ich jetzt gar nicht drauf geachtet.« Nicht weil er lustig sein wollte - er meinte das ernst. Er hatte vor lauter Hunger so schnell gegessen, dass er wirklich nicht auf den Geschmack geachtet hatte. Itchy ist allerdings generell ziemlich verpeilt. Einmal rief er mich auf dem Weg zur Arbeit an und meinte mitten im Gespräch: »Scheiße, ich muss nochmal zurück, hab mein Handy zu Hause vergessen.« Als ich ihm sagte, dass er damit gerade telefoniere, sagte er nur: »Ach ja, stimmt«, als wäre das ganz normal, als könnte man sich da schon mal vertun.
    Ich bestelle noch ein Bier und zünde mir eine Zigarette an. Irgendwie sieht die »Linde« jetzt ganz anders aus. Gar nicht mehr wie ein Restaurant, eher wie eine Kneipe. Das
Radio läuft, dicke Rauchschwaden hängen unter der Decke, und der Junge mit der Baseballkappe sitzt an einem dudelnden Spielautomaten, den ich vorhin gar nicht bemerkt habe. Aus dem Hinterzimmer dröhnt das tiefe Lachen der Jäger, am Tresen hockt ein Mann in Jeanshose und Jeanshemd. Zu den Kartenspielern hat sich ein viertes Mitglied gesellt, das die Lautstärke um ein paar Dezibel hebt.
    Es ist eine seltsam zusammengewürfelte Runde. Vier Männer zwischen zwanzig und fünfzig, was ja schon mal echt merkwürdig aussieht. Ins Radetzky kommen natürlich auch Leute unterschiedlichen Alters, aber dieses Quartett wirkt, als wäre fundamentale Langeweile der einzig gemeinsame Nenner.
    Der Jüngste hat eine unkomfortable Frisur, die ihm wie eine Gardine ins Gesicht hängt und mich an die Nummer einundsechzig beim Inder auf der Oranienstraße erinnert, Palak Paneer, irgendwie schlammfarben. Unter der Gardine versteckt sich ein Bubigesicht mit rosigen Wangen und unsicher zuckenden Augen.
    Der Schnauzbartträger ihm gegenüber könnte rein altersmäßig sein Vater sein. Er hat eine dicke Handytasche am Gürtel, wie sie ältere Herren benutzen, die ihre Freizeit am liebsten bei Conrad Electronic oder im Baumarkt verbringen. Vielleicht hat er hier bei der Vertäfelung geholfen und darf deswegen umsonst saufen. Auf jeden Fall scheint er nicht weit entfernt zu wohnen, er ist in Pantoffeln da.
    Eins weiter in der Ecke hockt der Comicverkäufer

Weitere Kostenlose Bücher