Was Liebe ist
da und dort aufleuchtenden Fassaden. Er hält immer noch die Medikamentenschachtel in der Hand. Als er sie endlich einstecken will, sieht er, dass eine Nummer darauf notiert ist – eine Telefonnummer mit einer Mobilfunkvorwahl. Zoe hat gekämpft.
ZWEI
ETWA FÜNFZIG METER von dem Café entfernt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, liegt das ehemalige Verwaltungsgebäude der Ziegler-Elektro-AG. Es ist ein breiter, dreistöckiger dunkelroter Backsteinbau, ein recht typisches Bürogebäude aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Ein paar Stellen des Mauerwerks sind mit silbernen Graffiti-Zeichen besprüht. Die Fenster sind modernisiert worden. Er ist noch nie hier gewesen, und das Gebäude ist auch nicht mehr im Besitz der Familie.
Aber er kennt das Eingangsportal von alten Schwarzweißfotos, die es sowohl im Firmenarchiv gibt als auch in den privaten Fotoalben seiner Großmutter. Das Gebäude hat sich in den vergangenen sechzig Jahren nicht wesentlich verändert. Es gehört jetzt der Stadt Berlin, in den achtziger Jahren ist eine Berufsfachschule eingezogen. Vor dem Eingang ist eine Bushaltestelle. Wahrscheinlich hat man sie für die Schüler eingerichtet.
Nichts, kein Hinweis an der Fassade, kein altes Emblem an der Eingangstür, erinnert mehr daran, dass die Räume, in denen jetzt unterrichtet wird, einmal der Sitz einer elektrotechnischen Firma gewesen sind, die sein Großvater, HermannZiegler, 1931 im Alter von siebenundzwanzig Jahren unter dem Namen Ziegler Spulen- und Ankerwickelei gegründet hat.
Sein Großvater muss ein umtriebiger junger Ingenieur und Unternehmer gewesen sein. Die Spulenproduktion war damals ein florierender Wirtschaftszweig. Eine Spule ist als elektrotechnisches Bauteil für sich genommen so universell wie ein Nagel oder ein Knopf. Dadurch konnte die Ziegler-Elektro-AG, wie die Firma ab 1936 hieß, allen technischen und wirtschaftlichen Anforderungen der dreißiger und vierziger Jahre gerecht werden. Spulen kommen in Radioempfängern und Lautsprechern zum Einsatz, in Türklingeln, Fahrraddynamos, Transformatoren, Elektromotoren, Funkgeräten und Bombenzündern.
Das Verwaltungsgebäude, vor dessen Eingangsportal er steht, während ein Bus die Haltestelle anfährt und wieder verlässt, ist 1938 fertig gestellt worden, also relativ kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Kriegsvorbereitungen Hitlers hatten begonnen. Aus einem Stapel von Direktiven und Anordnungen, die im Firmenarchiv dokumentiert sind, geht hervor, dass die Ziegler-Elektro-AG im Verlauf der Jahre 1939 und 1940 rechtlich und organisatorisch in die Kriegswirtschaft des nationalsozialistischen Staats eingebunden worden ist. Der Schriftverkehr mit ausländischen Kunden wurde unter Zensur gestellt. Es durften keine Lizenzen mehr vergeben werden, und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften waren nur noch in begrenztem Umfang möglich. Entwicklungs- und Produktionsziele haben sich nicht mehr nach dem Bedarf ziviler Auftragseingängegerichtet, sondern wurden durch Anordnungen aus dem Reichskriegsministerium und vom Oberkommando der Wehrmacht gesteuert.
Er weiß wenig über diese Zeit. Als Enkel ist er inzwischen im Vorstand der Firma seines Großvaters, aber die Geschichte eines Unternehmens ist für dessen Zukunft nicht von Bedeutung. Eine der Auswirkungen, die der Zweite Weltkrieg für die Firma gehabt hat, ist die, dass ihr Sitz nicht mehr in Berlin ist, sondern in Frankfurt am Main.
Kurz vor der Einkesselung Berlins durch russische und polnische Truppen im April 1945 ließ sein Großvater Teile des Firmenarchivs nach Hessen verlagern – den Unterlagen nach eine heikle Operation, da die Transportkapazitäten beschränkt waren. Die Personalakten und der Schriftverkehr mit dem Reichssicherheitshauptamt, den örtlichen Führern der Gestapo oder der Leitung des Zwangsarbeiterlagers blieben in Berlin. Aber die technischen Unterlagen, die Konstruktionszeichnungen, Spezifikationen und Verfahrensanweisungen wurden vor dem Zugriff der anrückenden Roten Armee in Sicherheit gebracht. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war nur noch eine Frage der Zeit, und sein Großvater wollte die Produktion danach möglichst rasch wieder aufnehmen. Mit einundvierzig Jahren hatte er noch nicht vor, sich zur Ruhe zu setzen.
Im Gegensatz zu den Produktionsstätten der Ziegler-Elektro-AG ist das Verwaltungsgebäude im Krieg nur unerheblich beschädigt worden. Das Eingangsfoyer ist dunkel, nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen
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