Was man so Liebe nennt
als sei Bank-holiday. Manchmal hätte Vic das gern zu Emma gesagt, aber ihm war klar, das wäre ein Fehler, denn selbst ihrer größten Verzückung mußte immer ein Körnchen würdiger Trauer beigemischt sein. Also behielt er es für sich, aber er fühlte sich großartig; glücklich und großartig.
JOE
J oe gehörte zu der Sorte Männer, die dagegen ankämpfen, immer rechter zu werden. Er war in einem sozialistischen Haushalt aufgewachsen, und es gab bestimmte Dinge, die er seit jeher instinktiv verachtete: Privatpatientensystem, Privatschulen, Steuererleichterungen für die Reichen etc. etc. Ais er älter wurde, stellte er jedoch mehr und mehr fest, daß es sich bei dieser ersten Reaktion eben um einen Instinkt handelte, einen wie angeborenen Impuls, der sich bei längerem Nachdenken jedoch abbaute und ihn mit Meinungen dastehen ließ, die oft in krassem Gegensatz zu seinem ursprünglichen Schwall heftiger Abneigung standen.
Nun war es nicht etwa so, daß Joes eigene finanzielle Situation sich so entwickelt hätte, daß, wie bei vielen seiner Generation, der eigene Wohlstand radikale linke Einstellungen heuchlerisch erschienen ließ: Joe leitete ein biochemisches Labor für Friedner, einen Pharmakonzern mit Stammsitz in Deutschland, wo er es nach zwölfjähriger Arbeit mit kleinen, aber stetigen Gehaltserhöhungen auf das bescheidene Jahreseinkommen von 36.000 Pfund gebracht hatte — genug zum Überleben, gewiß, für seine Frau Emma und das Kind Jackson, aber eigentlich nicht genug, um einer eingefleischten sozialistischen Weltanschauung in die Quere zu kommen. Die Arbeit für Friedner diente, wenn überhaupt, eher dazu, die studentischen rebellischen Überreste, die noch irgendwo in ihm schlummerten, neu anzufachen: insbesondere die Beförderungspolitik, die Friedner betrieb und die von Jahr zu Jahr mehr dazu tendierte, Angestellte wie Joe von der wissenschaftlichen und praktischen Forschung in Richtung Verwaltung und mittleres Management zu lenken. Joe verstand sich als Wissenschaftler, und das war er zweifellos auch mit seiner an der Warwick-Universität geschriebenen und veröffentlichten Doktorarbeit über die Beziehung zwischen
Nuklein- und Aminosäuren. Bisher war er dem besonders tristen Schicksal in irgendeiner Verwaltungsabteilung entgangen, aber die Tatsache, daß es drohend über seiner Karriere schwebte, war dazu angetan, seinen alten linken Haß auf den seelenzerstörenden Charakter des Monopolkapitalismus Wiederaufflammen zu lassen. Aber wenn das geschah, dann immer nur kurz, denn Joe, der sich weniger über sich selbst vormachte als die meisten, erkannte bald, daß es sich eher um einen persönlich motivierten Groll handelte als um objektive Kritik.
Außerdem fiel ihm auf, daß sein Herz keine Höhenflüge mehr machte.
Emma und Joe guckten sich die Beerdigung nicht zusammen an. Bei dem anderen großen Fernsehmoment der Woche, der Ansprache der Königin an die Nation, war die Spannung zwischen ihnen zu unerfreulich gewesen. Sie hatten sich die Rede zusammen mit Emmas Mutter Sylvia angesehen — oder Mrs. O’Connell, wie Joe sie inzwischen nennen mußte: Ihre Würde, die eine Hauptrolle in der Tragikomödie ihrer Alzheimer-Krankheit spielte, erlaubte es Sylvia nicht, sich von einem impertinenten blauäugigen Mann, den sie ihres Wissens überhaupt nicht kannte, beim Vornamen anreden zu lassen. Sylvia hatte es sich seit kurzen angewöhnt, uneingeladen zu jeder Tages- und Nachtzeit bei ihnen aufzutauchen, und Joe mußte sie dann später in ihre winzige Wohnung in Woolwich zurückfahren.
Die Weihnachtsansprache der Königin hatte Joe immer gehaßt. Sein richtiger Vater, ein Zahnarzt, der viel älter als seine Mutter gewesen war, starb, als Joe vier war. Als seine Mutter zwei Jahre später wieder heiratete, einen tschechoslowakischen Einwanderer namens Patrick, einen pfeiferauchenden Prinzipienreiter, lag ihr so viel daran, daß ihre Kinder ihn als Vater akzeptierten, daß sie den Familiennamen amtlich auf seinen umändern ließ, Serena, womit Joe immerhin seinen platten angelsächsischen Nachnahmen Lodge los war. Patrick war irgendwie ein Widerspruch in sich: Obwohl er politisch seinen marxistisch-leninistischen Neigungen treu blieb, nicht überraschend bei jemandem aus dem Osteuropa der 6oer Jahre, glaubte er offenbar, die Ankunft an den Gestaden des Inselreichs verpflichte ihn, britischer zu sein als die Briten: Jeden Tag kaufte er sich den Daily Express, wegen des kleinen Manns mit dem Kreuz
Weitere Kostenlose Bücher