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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Graue tief hängende Wolken jagten über den Himmel, Blätter wurden abgerissen und tanzten in allen Richtungen davon, die Äste der Bäume ächzten und bogen sich unter den Böen. Regentropfen klatschten auf die Erde. Gegen Abend kühlte es merklich ab. Narcisse wurde von Schüttelfrost gepackt, sein ganzer Körper zitterte, und errollte sich so flach wie möglich zusammen, um dem Wind weniger ausgesetzt zu sein.
    Plötzlich fühlte er einen anderen Körper, der sich gegen seinen presste. Die Alte hatte sich neben ihn gelegt und hielt ihn mit ihren kurzen Armen umfangen. Auf seiner Brust ruhte eine schwarze runzelige Hand. Eine nackte Frau, die sich an ihn schmiegte, er ebenfalls nackt. Geruch von Fett und Schweiß. Anstelle kalter Windstöße war es jetzt warm an seinem Rücken, seinem Hintern, seinen Beinen. Ihr Atem in seinem Nacken. Zwei Körper, die einander umarmten – wo war die Hure aus Kapstadt, wo waren die Lebenskraft und das Lachen von damals … In seinem Fiebernebel erschien ihm das zunächst obszön, eine schwarzhäutige Alte und ein weißer junger Mann.
    Dann gab er allen Widerstand auf und fühlte sich geborgen.
    Vierter Brief
    Sydney, 5. Juni 1861
    Monsieur le Président,
    anfangs dachte ich, dass die Rückkehr von Narcisse in unsere Welt einfach sein würde: vielleicht langsam, doch sicher, mit beständigen Fortschritten. Er sollte im Grunde nichts weiter tun, als wieder auf den Hügel zu gehen, welchen er als Kind bereits hinauf- und während seines Exils hinabgestiegen war.
    Die Wirklichkeit gestaltet sich ungleich komplexer. Narcisse hat seinen eigenen Kopf und verwehrt sich gegen so manchen Fortschritt. Ich stelle das fest, begreife es aber nicht.
    Zum Beispiel, was das Schreiben angeht. Ich wollte ihm helfen, jenes Wissen wiederzufinden, das er einst auf der Schulbank erworbenhatte – die Vorstellung, dass dieser Matrose ein kompletter Analphabet gewesen sein soll, scheint wenig wahrscheinlich.
    Ich schrieb also unsere Vornamen in Blockbuchstaben auf ein Stück Papier und las sie ihm vor, indem ich den einzelnen Buchstaben mit dem Finger folgte. Er verstand zwar meine Worte, nicht aber ihre Verbindung mit den Zeichen auf dem Papier. Was hätte ein Dorflehrer getan? Ich wiederholte meinen Vornamen und zeigte ihm wieder die Buchstaben, dann reichte ich ihm Stift und Papier. Er nahm beides, sah mich an, wie um sich zu versichern, dass er alles richtig verstanden hatte, und wartete mit erhobenem Stift. Ich sagte sacht:
    «Schreib: Narcisse.»
    Ohne Zögern begann er, Zeichen zu malen: leider keine ungelenken Buchstaben oder plumpen Striche, sondern eine klare Abfolge von unterbrochenen Linien, Kreisen, Spiralen und Punkten. Schnell und konzentriert malte er eine Reihe von geometrischen Figuren, die nach und nach die ganze Seite bedeckten und von einer abstrakten und einmaligen Symmetrie waren. Vor allem die grafische Komplexität seines Zeichensystems, das im Stil den Tätowierungen auf seinem Körper ähnelte, war erstaunlich, aber noch mehr verwunderte sein Vorgehen: Er begann nicht in der Mitte und auch nicht mit einem zentralen Motiv, sondern fing an der unteren rechten Ecke an und arbeitete sich in einem Gewirr von Einzelheiten, die nach und nach das ganze Blatt bedeckten, bis zur linken oberen Ecke vor. Selbst Raphael und Poussin wäre es nicht gelungen, so zu arbeiten. Um bei der Gestaltung nicht durcheinanderzugeraten, musste er bereits von Anfang an das gesamte barbarische Werk im Kopf haben. Eine geheimnisvolle Harmonie ging von dieser seltsamen Komposition aus, die er da zustande gebracht hatte. Welch eine Linienführung, welch eine Ästhetik!
    Narcisse bedeckte die Seite in nicht einmal zehn Minuten mit seinen Hieroglyphen, dann legte er den Stift ab und war zufrieden mitseinem Werk, und schon im nächsten Augenblick interessierte es ihn nicht mehr.
    Bei der Sprache macht er schnellere Fortschritte. Jeden Tag entdeckt er vergessene Vokabeln wieder. Auch sein Akzent hat sich verbessert. Er spricht alle Laute mehr oder weniger richtig aus, und seit ungefähr einem Monat hat er das Zungenschnalzen und Zischen abgelegt, das ihn beim Sprechen behinderte. Seine Sätze haben nur noch einen anderen Rhythmus, eine andere Melodie, ähnlich einem Italiener, der Französisch spricht.
    Redselig ist er nicht. Liegt die Wortkargheit in seinem Charakter? Oder hat er Mühe, die richtigen Worte für seine Gefühle zu finden? Hat er etwa nichts zu sagen?
    Sinn und Gebrauch der Zeiten sind ihm noch

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