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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Akteuren daran erfreut. Narcisse kennt keine Scham.
    Ich versuchte, ihm alles zu erklären. Sein rechtes Auge war blutunterlaufen, und er hatte begriffen, dass Bill ihn geschlagen hatte, weil er ihn mit der Waschfrau entdeckt hatte, aber den Grund dafür verstand er nicht. Das war jedenfalls das Ergebnis unserer ungemütlichen Unterredung. Er war Bill im Übrigen nicht böse – wieder einmal waren ihm unsere Gebräuche unerklärlich, und er nahm sie gleichmütig zur Kenntnis.
    Mir erscheint diese Entdeckung sehr wichtig. In seinem Stamm verstecken sich Männer und Frauen also nicht in Liebesdingen, und jeder darf ihnen dabei zuschauen. Unser Venustempel liegt im Haus, im Schlafzimmer, unter der Decke und bei gelöschtem Kerzenlicht. Selbst wenn es gemeines Volk ist, wie Bill und die Waschfrau, und selbst wenn es bei Tage und auf einem Strohsack stattfindet – man zieht sich zurück und schließt die Tür. Man käme nicht auf die Idee, sich in dieser Lage beobachten zu lassen – es sei denn, man ist nicht bei Verstand – oder selbst der Beobachter zu sein – außer, man ist ganz und gar pervertiert. Diese Schamhaftigkeit gilt für alle Epochen und Klimazonen. Doch für Narcisse war das alles unverständlich. Dank seiner Unverdorbenheit und Bills Verdorbenheit – erst die geheimen Machenschaften, dann seine Wut –, gelangte ich zu einer wertvollen Erkenntnis, die zu erfragen mir im Traum nicht eingefallen wäre.
    Leider verliert sich diese Unverdorbenheit in jenem Augenblick, in dem sie offenbar wird. Ich hätte die ganze Szene nachstellen können: Ein Soldat und ein Mädchen vom Hafen wären gegen ein paar Münzen einverstanden gewesen, sich in einer ähnlichen Situation überraschen zu lassen. Doch abgesehen davon, dass mir diese seltsameKupplerrolle nicht zusagt, hätte ich aus der Reaktion von Narcisse keinerlei Rückschlüsse mehr ziehen können. Er hat aus Bills Faustschlag gelernt und wird nicht mehr einfach durchs Fenster sehen. Er wird niemals mehr dieses ruhige Lächeln im Gesicht haben, diesen unschuldigen Blick, welcher allein der Waschfrau und ihrem Liebhaber vorbehalten bleibt.
    Narcisse verändert sich. Jeder Tag bringt ihn uns näher und entrückt ihn den Tiefen Australiens. Er passt sich unseren Lebensgewohnheiten an, sobald er sie nachvollziehen kann. Die Hosen, die er nunmehr trägt, die Worte, die er zu sprechen in der Lage ist, die Beziehung, die er zu mir aufgebaut hat, führen ihn zu uns zurück, aber überdecken genau das in ihm, was ich zu begreifen suche.
    Wenn ich über diesen Zwischenfall nachdenke, wird mir klar, dass Narcisse wie eine Nachricht ist, die ein Finger auf eine beschlagene Scheibe geschrieben hat. Mit dem Dunst verschwindet auch die Nachricht, für immer. Ich muss alles aufschreiben, was ich in Kenntnis bringe, bevor es sich in Luft auflöst. Mit jedem Tag verliert Narcisse an Unverstelltheit – wofür er nichts kann. Ein Chemiker kann das gleiche Experiment hundertmal wiederholen, um dessen Richtigkeit zu überprüfen; die Rückkehr von Narcisse in unsere Welt findet hingegen nur ein einziges Mal und nur in eine einzige Richtung statt. Ich werde sie beschreiben.
    Dank dieser Überlegungen gelang es mir, trotz des häuslichen Aufruhrs zu Gelassenheit zurückzufinden. Ich wies Bill und die Waschfrau an, mit der Schaluppe diesen Ort zu verlassen: Ich konnte nicht einen Sträfling in meinen Diensten behalten, der die Hand gegen meinen Landsmann erhoben hatte.
    Der Zwischenfall hat mich noch etwas anderes gelehrt. Narcisse war Bills Schlägen ausgewichen, die immer heftiger wurden, er selbst aber hatte keinen einzigen ausgeteilt. Seine spontane Reaktion entsprach vielleicht nicht genau dem Evangelium – er hielt nicht dieandere Wange hin –, doch war seine Sanftmut wie aus dem Evangelium, und nur wenige von uns wären nach dem ersten Schlag dazu in der Lage gewesen. Der Hund, den man schlägt, bleckt die Zähne, das Kleinkind wehrt sich, wenn es getadelt wird. Wie du mir, so ich dir, lautet das Talionsprinzip, das Gleiches mit Gleichem vergilt. Die eigene Unversehrtheit zu gewährleisten, indem man ausweicht und nicht zurückschlägt, erfordert ein hohes Maß an Beherrschtheit.
    Was soll das heißen? Sind jene barbarischen Sitten, die Narcisse fortwährend aufs Neue offenbart, als zivilisiert zu betrachten? Das darf nicht sein. Und doch kann ich am Abend, während ich diese Zeilen niederschreibe, an nichts anderes denken als an jene Sanftmut. Es drängt sich eine

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