Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Java Kehrtwende machen würde. Falls das Schiff demnächst tatsächlich in die Bucht einlief, standen die Chancen schlecht, dass er sich in genau diesem Augenblick dort befinden würde. Genauso wenig war er sich sicher, dass in dieser ihm völlig unbekannten Gegend irgendwo andere Weiße lebten. Ihm fehlte jedes Mittel, um herauszufinden, ob die Wilden bereits Kontakt zu Weißen gehabt hatten. Sollte das Schiff zurückkehren und er zufällig am Strand sein, hätte er bis dahin zwei Wochen unter Wilden zugebracht, oder auch mehr, sehr viel mehr.
Oder auch weniger – falls sie ihn umbrachten oder ihn etwas anderes dahinraffte, der Hunger, der Durst, eine Krankheit, ein Gift, die Verzweiflung. An dieser Stelle schwor er feierlich einen absurden Eid: Er würde dieses Abenteuer, dessen Dauer unabsehbar war, überleben. Seine Willensstärke überwältigte ihn. Ja, überleben!
Ein wenig aufgemuntert, erhob er sich und nahm die Bäume, die ihn umstanden, zu Zeugen, als er ausrief: «Ich heiße Narcisse Pelletier und bin Matrose auf der Saint-Paul.»
Nach einer langen Mittagsruhe begannen die Frauen, in der Erde zu wühlen und Zwiebeln zu ernten. Bei Sonnenuntergang machten sie sich wieder auf den Rückweg. Er folgte ihnen. Das Ohr schmerzte wie eh und je, es war ein steter Schmerz, der mit einem Prickeln auf der linken Gesichtshälfte einherging. Er massierte sich fortwährend die Schläfe, um das Gefühl zu lindern.
Auf der Lichtung hatten die jungen Leute ein Loch gegraben und darin Reisig und kleine Zweige entzündet. Die Glut bedeckten sie mit flachen Steinen. Die Frauen legten ihre auf Blättern angerichtete Ernte darauf ab und auch einiges Kleingetier – waren es Vögel? Fledermäuse? Dann wurde das Ganze mit weiteren Blättern und schließlich mit Erde abgedeckt.
Wie viele Wilde waren es überhaupt? Sie sahen sich alle so ähnlich:klein und untersetzt und schwarz mit Kraushaar. Ihm gelang es nicht, sie voneinander zu unterscheiden.
Sicher, da war zunächst die Alte. Und die Gruppe von Frauen, oder besser, Müttern. Sie waren zu acht, nein, mit der Schwangeren neun. Die Jüngste stillte gerade. Um die Frauen herum zählte er vierzehn Kinder von bis zu zehn Jahren, sie blieben alle in der Nähe und spielten miteinander.
Es gab sieben Männer. Der Älteste, der vielleicht sechzig Jahre zählte und an den Narcisse bei seiner Ankunft das Wort gerichtet hatte, war fast den ganzen Tag über bei der Lagerstatt geblieben. Er beschloss, ihn Chef zu nennen. Die anderen waren alle zwischen dreißig und vierzig, soweit man ihr Alter einschätzen konnte. Narcisse erkannte den Mann, der auf ihn zugekommen war, als er sich an der Wasserstelle wusch, er wirkte kräftiger und entschlossener als die anderen. Wegen seines Körperbaus nannte er ihn Quartiersmeister.
Die Männer und Frauen sprachen wenig. Die Gruppe mit den jungen Leuten war dagegen lebhafter. Sie waren zwischen zwölf und fünfundzwanzig und hielten sich sowohl von den Kindern als auch von den Erwachsenen fern. Die zehn Jungen und sechs Mädchen blieben nicht immer beieinander. Mitunter sonderten sich Jungen von der Gruppe ab und spielten mit kleinen Knochen; oder es bildete sich für Spiel oder Arbeit eine Vierergruppe; manchmal ging einer der jungen Leute alleine in den Busch. Unter einem Baum saßen ein Junge und ein Mädchen und liebkosten sich, ohne sich zu verbergen. Narcisse errötete, als er bemerkte, wie die Hand des Mädchens am Schenkel des Jungen hinaufwanderte.
Neun Frauen, sieben Männer, vierzehn Kinder, sechzehn Jugendliche: Um ihn herum befanden sich sechsundvierzig Wilde. Er musste sie beobachten, die Beziehungen zwischen Ehemännern und ihren Frauen, zwischen Geschwistern, zwischen Vätern und ihrem Nachwuchs begreifen. Das konnte ihm nur nützlich sein. Mithilfe von kleinen Zweigen und Steinen begann er im Sand eine erneuteZählung, und auch wenn sie nicht stillhielten, kam er zum Ergebnis von vorher.
Chef, Quartiersmeister … er musste sie unterscheiden lernen. Schwierig, passende Spitznamen zu finden: Diesen dort würde er Narbe nennen, jenen Angeber, den daneben Plattnase oder sogar Kermarec, denn sein Gang erinnerte ihn an einen seiner Kameraden auf der Saint-Paul. Aber sobald sie sich auch nur kurz entfernten, miteinander sprachen und dann wieder zurückkamen, war er schon nicht mehr sicher, wer von ihnen welcher war.
Es dunkelte bereits, als plötzlich ein junger Wilder aus dem Busch heraustrat. Dem ersten Eindruck nach hatte er ihn
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