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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nicht klar, besonders das Futur bereitet ihm Schwierigkeiten. «Morgen wird die Sonne wieder aufgehen» ist für ihn eine müßige Sprachwendung, denn dieses Ereignis ist gewiss. «Morgen werden wir zum Schwimmen an den Fluss gehen» hat für ihn keinen Sinn. Er begreift, was ich sage, doch wartet er dann darauf, dass wir uns sofort auf den Weg machen.
    Wenn er seine persönliche Meinung zum Ausdruck bringt, mag der Gegenstand auch noch so unbedeutend sein, beginnt er mit einem feierlichen: «Ich sage» – wahrscheinlich ein Relikt aus der Rhetorik der Wilden oder eine ihrer Höflichkeitsformeln: «Ich sage: Bill kocht gut.»
    Doch auch jetzt, da wir mehr oder weniger miteinander reden können, will er mir nichts über das Leben bei den Wilden erzählen. Er versteht meine Fragen, scheint mir, doch begegnet er allen meinen Versuchen mit Schweigen, wie immer ich es auch anstelle. Ich weiß von seinem Schicksal nicht mehr als am Tag unserer ersten Begegnung.
    Mein Projekt zur Erforschung der Wilden im Nordosten Australiens auf der Grundlage seiner Informationen kann also auchweiterhin nicht beginnen, obwohl ich mich in genau dieser Hoffnung damals einverstanden erklärte, mich um Narcisse zu kümmern.
    Ein Scheitern also, oder dessen Vorzeichen? Ich weiß nicht, warum, aber ich sehe es nicht so. Seine Fortschritte lehren mich etwas anderes, etwas, das ich verwirrt registriere, aber noch nicht recht zuordnen kann. Vielleicht werde ich niemals etwas über jene dunkelhäutigen Australier erfahren – doch die Entwicklung von Narcisse ist auf eine andere, nicht weniger bedeutende Weise lehrreich.
    Ich bin zu einem anderen Schluss gekommen. Narcisse kann nicht schreiben, nicht über Zukünftiges nachdenken und nichts über seinen Aufenthalt erzählen. Anfangs dachte ich, sein Verstand wäre wie ein unbeschriebenes Blatt, das sich mit meinen Lektionen füllt, oder wie weiches Wachs, in dem ich meinen Abdruck hinterlasse. Ich stelle fest, dass er sich in einigen Punkten verweigert und ich nichts dagegen ausrichten kann. Das Bild von einem Narcisse, der sich langsam unserer Welt annähert, indem er in Anlehnung an Platon seine Höhle verlässt und auf die Sonne des neunzehnten Jahrhunderts zuschreitet, ist falsch. Es stecken zwei Menschen in ihm: der seit Jahren weggesperrte Matrose, der alles daransetzt, auszubrechen; und der wilde kleine Teufel, der Zug um Zug darum kämpft, ihn genau daran zu hindern. Der Matrose siegt, aber nicht immer und nicht ohne Zugeständnisse.
    So, wie seine Haut von den Tätowierungen gezeichnet ist, so ist es auch sein Geist von den Erfahrungen, und er wird sich ihrer vielleicht niemals vollständig entledigen können. Die Vorstellung, dass in einem Menschen zwei Seelen miteinander ringen, hat etwas Merkwürdiges. Aber ich sehe nicht, wie ich ihn sonst verstehen sollte.
    Mir scheint, es ist an der Zeit, sich einzuschiffen. Unserer Abreise steht nichts mehr im Wege, und ich muss zugeben, dass ich angefangen habe, mich in meinem selbst gewählten Exil zu langweilen. Aus Angst, vielleicht eine neuerliche Flucht von Narcisse zu provozieren, habe ich mich nicht mehr nach Sydney begeben. Der Unterricht, den ich ihm erteile, hält mich beschäftigt, seine Fortschritte erfreuen mich, aber in seiner Gesellschaft fehlt es mir an Abwechslung.
    Ich habe dem Gouverneur geschrieben, um ihm vom Ende unseres Aufenthalts in der Kolonie in Kenntnis zu setzen, und er hat uns für nächste Woche eine Passage auf der Strathmore zugesagt, einem Schiff, das vor Kurzem in Bristol ausgelaufen ist. So Gott will, werden wir Mitte August in Frankreich eintreffen. Eine meiner ersten Handlungen wird sein, Ihnen, Monsieur le Président, meinen Schützling vorzustellen.
    Ihren Brief vom 16. April, in dem Sie mir auf mein allererstes Schreiben antworten, habe ich erhalten. Die Komplimente, die Sie mir machen, haben mich sehr berührt, denn ich hatte das Schicksal von Narcisse nicht von Ihrem Standpunkt aus betrachtet. Doch sind Sie allzu großherzig. Für mich zählt wissenschaftliche Forschung. Ich hatte bislang weder den Eindruck noch das Bedürfnis, der gute Samariter zu sein, an den sich Ihre Lobreden richten. Es stimmt, dieser junge Mann ist fesselnd, und die Dramen, die er durchlitten hat, sind erschütternd. Doch mir liegt vor allem daran, die Verwandlung eines Weißen zum Wilden und eines Wilden zum Weißen so vollständig wie möglich zu beschreiben.
    Da Narcisse über seinen Aufenthalt bei den Eingeborenen beharrlich

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