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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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noch nie zuvor gesehen, aber er konnte sich irren. Der gerade Angekommene beachtete ihn nicht und ging zu den jungen Leuten, obwohl er ganz offensichtlich älter war und breitere Schultern als die Heranwachsenden hatte. Die Jungen versammelten sich um ihn, und er begann, etwas zu erzählen, seine Rede wurde von erstaunten und zustimmenden Rufen begleitet. Auch Kermarec und der Quartiersmeister kamen herbei und lauschten. Es schien, als sei ein Reisender in sein Heimatdorf zurückgekehrt und erzähle nun fröhlich von seinen Erlebnissen. Wird man mich zu Hause auch so empfangen?, fragte sich Narcisse voller Heimweh. Die Vorstellung, nackt zu sein und seine Abenteuer einer nackten Zuhörerschaft darzubieten, schien ihm gewagt … Er ergänzte seine Zählung um einen Stein. Mit der Ankunft des Landstreichers waren es siebenundvierzig Wilde.
    Die Alte kam auf ihn zugetrippelt und bedeutete ihm, sich nicht zu rühren. Mit flinken, genauen Handbewegungen entfernte sie die Paste von seinem Ohr, ließ etwas Wasser aus dem Wassersack über die Wunde laufen und trug eine neue Schicht des heilenden Breis auf.
    Wie am Vorabend deckten die jungen Leute das Loch ab, welches als Ofen diente. Narcisse versuchte, sich zu ihnen zu gesellen, wurde aber wieder unmissverständlich abgewiesen. In der Dämmerung störte ihn seine Nacktheit weniger – oder war er dabei, sich daran zugewöhnen? Er machte einen erneuten Versuch. Landstreicher, der noch gar nicht dabei war zu essen, stellte sich ihm mit finsterem Blick in den Weg. Ihm fehlte die Kraft, einen Streit anzufangen, dessen Ausgang recht ungewiss war. Wer würde sich auf seine Seite schlagen? Er machte kehrt und wartete. Nachdem erst die Männer und dann die Frauen gegessen hatten, brachte ihm die Alte ein stark angekohltes Stück Fleisch, das noch kleiner, trockener und zäher war als das Stück Wild vom ersten Abend. Diese magere Mahlzeit stillte seinen Hunger kaum, und sein Ohr schmerzte unvermindert.
    Die Wilden sangen eine Weile – wenn man ihren zittrigen, von Zungenschnalzen und Zähneklappern unterbrochenen Singsang als Gesang bezeichnen konnte, in dem die gellenden Frauenstimmen das Gebrummel der Männer übertönten. Dann war es an der Zeit zu schlafen, unter einem pechschwarzen Himmel. Sie krochen unter die dünnen Blätterdächer, die Männer jeweils mit ein, zwei Frauen und mehreren Kinder, die jungen Leute ein Stück entfernt ins Gestrüpp.
    Er fand den Baum wieder, unter dem er die vergangene Nacht verbracht hatte, und legte sich nieder. Die leichte Nachtbrise, die über seinen ganzen Körper strich, brachte ein neuartiges Gefühl mit sich und ließ ihn den Verlust seiner Kleider wieder spüren. Er brach Zweige und Palmwedel ab, um sich damit zuzudecken. Wegen der Verletzung konnte er zusammengerollt nur auf der rechten Seite schlafen. Die Verlassenheit war niederschmetternd. Er brach in ein geräuschloses, sanftes Weinen aus, das sich nicht unterdrücken ließ. Die Tränen beruhigten ihn und halfen ihm, mit den Entbehrungen und Misserfolgen fertigzuwerden, die er seit seiner Ankunft am Strand hatte hinnehmen müssen. Das letzte Mal hatte er als ganz kleiner Junge geweint – sobald er Schwäche zeigte, schlug sein Vater nur umso fester zu. Aber würde er auch nur einen weiteren dieser unbegreiflichen Schläge ertragen, welche ihm das Schicksal hier zumutete? Niemand hörte ihn wimmern, stöhnen, schniefen – wie ein kleines Tier, das verletzt und verlassen war. Tränenüberströmt schlief er ein.Beim Aufwachen fehlte ihm jede Kraft. Seine Zähne klapperten vor Schüttelfrost. Er versuchte aufzustehen, doch der Schwindel war stärker, er musste sich wieder hinlegen. Die Schmerzen am Ohr hatten nachgelassen, er fühlte auch keinen Hunger mehr, aber ihm war kalt und heiß zugleich. Er litt an hohem Fieber. War das Wasser schuld, das er getrunken hatte? Oder die Verletzung, vielleicht die Paste, welche die Alte aufgetragen hatte? Oder doch einfach die übergroße Verzweiflung?
    Er lag in Embryonalhaltung und hatte abgebrochene Zweige als Decke über sich ausgebreitet, zitterte am ganzen Leib, erwartete keine Hilfe.
    Die Sonne stieg am Himmel auf, ihre Strahlen, die durch die Äste brachen, wärmten ihn nicht. Wäre er auf der Saint-Paul erkrankt, hätte er sich den Gang hinuntergeschleppt, bis zum Steuermann, zu dessen schlechter Laune, seinem schlechten Atem und seinen unwirschen Bemerkungen. Wie gern hätte er ihn jetzt mit rauer Stimme seinen Lieblingssatz sagen

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