Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
schweigt, ist der ausführliche Fragenkatalog, den Sie mir haben zukommen lassen und dessen Sinn und Zweck ich zweifellos erkenne, leider hinfällig. Wenn ich ihn befrage, lächelt er nur, gibt keine Antwort und erklärt sein Schweigen nicht. Ebenso schweigt ersich über die Umstände seiner Ankunft in Australien aus, oder sein Leben als Schiffbrüchiger, oder gar seine Jugend. Ich bin nicht einmal sicher, seinen Vornamen zu kennen: Vielleicht ist Narcisse das Ergebnis eines Missverständnisses, das er als sprachliche Übereinkunft zwischen uns akzeptiert hat.
Und dann gab es einen Zwischenfall, von dem ich Ihnen unbedingt erzählen muss, denn er hat mich zu wichtigen Gedanken geführt, von denen ich Ihnen berichten will.
Ich hatte mich in mein Zimmer zurückgezogen und war dabei, meine Aufzeichnungen zu lesen, als ich eine Frau kreischen hörte – ich erkannte die Stimme der Waschfrau –, ein dumpfes aufschlagendes Geräusch und eilige Schritte. Alarmiert ging ich sofort hinaus und um das Haus herum, wo ich Zeuge einer sonderbaren Szene wurde. Bill war dabei, sich mit Narcisse zu prügeln, oder vielmehr versuchte er es. Er holte immer wieder zu Faustschlägen und Fußtritten aus, von denen aber keiner sein Ziel traf. Narcisse wich nicht zurück, er bewegte sich kaum. Er wich jedem Angriff mit einer Bewegung seines ganzen Körpers aus und ließ die Faust oder den Fuß seines Gegners ins Leere laufen, danach nahm er wieder seine alte Haltung ein, ohne auch nur einen Millimeter an Boden preisgegeben zu haben. Er musste über sehr weitreichende Kenntnisse in der Kunst der Selbstverteidigung verfügen, um so bewegungslos dazustehen und den Angriffen erst im letzten Augenblick auszuweichen. Ich bemerkte auch, dass er niemals versuchte, Bill zu schlagen – und dieser, von seinem Schaukampf aus dem Gleichgewicht gebracht, wäre ein leichtes Opfer gewesen.
Ich schrie, sie sollen aufhören, stellte mich zwischen die beiden und verwies sie auf weit voneinander entfernte Plätze. Ich wollte wissen, warum sie sich gestritten hatten. Narcisse begriff überhaupt nicht, was passiert war. Bill und die Waschfrau wollten nicht sprechen oder redeten Unsinn. Ich musste ihnen erst ihre Lage alsSträflinge in Erinnerung rufen und ihnen androhen, sie wieder in die Haft zu schicken. Nachdem ich beide getrennt befragt hatte, stellten sich mir die Ereignisse wie folgt dar.
Die Schaluppe hatte, wie es zweimal die Woche üblich ist, angelegt und war für einige Stunden geblieben. Bill und die junge Frau nutzten diese Zeit, um sich im Zimmer meines Hausgehilfen zu treffen und ihrer Dienstbotenliaison nachzugehen. Es spielte keine Rolle, ob es das erste Mal gewesen war, oder ob Bill sich die Liebe der Waschfrau mit ein paar Geldstücken erkauft hatte – Geldstücke, die mir entwendet worden waren. Allein die Annahme, dass er das Mädchen gekauft und das Geld dazu gestohlen haben könnte, machte das Vergehen schwerwiegend, und Bill sah sich im Geiste schon in der berüchtigten Sträflingskolonie Port Arthur Bäume fällen. Er gestand offen alles ein und flehte mich um Gnade an.
Er hatte sich mit der Waschfrau auf seinem Strohsack niedergelassen und war gerade dabei gewesen, wenn nicht Venus, so doch Eros zu huldigen, als sie im Eifer des Gefechts den Kopf wandte und Narcisse bemerkte. Er blickte mit den Ellenbogen aufgestützt durch das Fenster herein und hatte angesichts des schamlosen Spektakels, das sich seinen Augen im lauen Nachmittagslüftchen bot, ein Lächeln im Gesicht.
Die junge Frau kreischt, und Bill ist erst verblüfft, dann wutentbrannt, weil man ihn bei seiner Beschäftigung gestört hat … Er springt auf, läuft ans Fenster und holt zu einem kräftigen Faustschlag aus, dem Narcisse nicht ausweichen kann, weil er ihn nicht erwartet hat. Bill bringt seine Kleidung in Ordnung und rennt in den Garten, um ihn zu verhauen – aber wie ich schon erzählt habe, gelingt ihm das nicht.
Diese etwas unappetitliche Anekdote verdient es nicht, erzählt zu werden? Erlauben Sie mir, Sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Beide, sowohl Zwangsarbeiter als auch Zwangsarbeiterin, haben unabhängig voneinander Narcisse, als er ihnen zuschaute, auf die gleiche Art und Weise beschrieben: Er lächelte. Nicht mit jener Lüsternheitdes Voyeurs, der eine verbotene Szene verfolgt und dabei vor allem Gefahr läuft, entdeckt und entehrt zu werden; sondern mit dem offenen Lächeln von jemandem, der einer angenehmen Szene beiwohnt und sich mit den
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