Was mit Rose geschah
hier sind echt.Dann sitze ich da und klopfe mit dem Stift auf den Schreibtisch. Seltsam, man kann fünfundneunzig Prozent der Zeit ein bestimmtes Bild von sich selbst haben, und dann plötzlich geschieht etwas, das die anderen fünf Prozent zum Vorschein bringt, die immer da gewesen sind, nur im Verborgenen. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie vor seinem Besuch. Auch das Büro hat sich kaum merklich verändert. Leon hat Spuren hinterlassen, und mein Büro ist nicht mehr ganz so wie vorher. Ich muss weniger Kaffee trinken, denke ich, ich werde sonst ganz paranoid. Nach einer Minute wird mir klar, dass ich mir den Unterschied nicht einbilde: ein schwaches Aroma, das noch in der Luft hängt. Zigaretten? Zigarren? Etwas in der Art, aber nicht genau das. Dann komme ich drauf – Holzrauch. Zum Glück, denn einen Moment lang habe ich geglaubt, ich würde verrückt.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist schon nach sechs, ein grauer, regnerischer Vorstadtabend im Mai. Über mir dröhnt ein Flugzeug. Es fliegt dorthin, wo es schöner ist.
Ich muss los. Nicht dorthin, wo es schöner ist. Ich habe zu arbeiten. Man könnte sagen, es ist ein Liebesdienst.
5
JJ
Wir brauchen eine Ewigkeit bis nach Lourdes. Wir müssen ständig anhalten, um zu kochen, Christo an die frische Luft zu bringen oder es Großonkel bequemer zu machen. Großmutter fährt den Landrover, der ihren Wohnwagen zieht, und Ivo den Van, der Großonkels Wohnwagen zieht. Es gab einen Riesenstreit, weil Großmutter den Wohnwagen Nummer eins, den besten, mitnehmen wollte – vor allem, um bei den französischen Fahrenden, die wir vielleicht treffen, anzugeben –, doch da hat Großvater Einspruch erhoben. Er nennt diesen hier »die Küche«, und damit hat er nichts zu tun. Also musste Großmutter sich mit dem zweitbesten zufriedengeben, der auch immer noch schick genug ist, um andere zu beeindrucken. Bisher haben wir allerdings noch keine französischen Fahrenden gesehen.
Wir halten an den Raststätten, die aus irgendeinem Grund aire heißen, um auf die Toilette zu gehen und so, und niemand belästigt uns. Französische Raststätten sind viel schöner als englische – überall gibt es eine Eiswürfelmaschine und eine Mikrowelle, die man benutzen kann. Man muss nichts dafür bezahlen – und an den Kaffeemaschinen gibt es richtig guten, starken schwarzen Kaffee. Ich liebe Kaffee. Mama jammert immer, dass ich zu jung wäre, um so viel Kaffee zu trinken, aber ich mag ihn einfach so gern. Vermutlich bin ich süchtig danach. Aber ich finde, Kaffee ist nicht so schlimm. Nicht wie Heroin oder Kippen. Onkel Ivo hat erzählt, dass er ein Päckchen am Tag raucht, seit er zehn war, und Großonkel hat nie etwas dagegen gehabt.
Wir sind jetzt mitten in Frankreich. Bis Lourdes ist es noch ein weiter Weg, denn das liegt ganz unten. Großmutter hält auf einer aire , die von dürren Bäumchen umgeben ist, und ich trage Christo hinaus in den Sonnenschein.
»Sieh mal, Christo, ein See – un lac. Regarde! «
Hier ist es wunderschön – es gibt wirklich einen See, auf dem Enten und Gänse schwimmen und das Wasser in der leichten Brise zittert. Die Blätter der Bäume flattern wie Millionen winziger hellgrüner Flaggen. Sie machen ein hübsches, sanftes Geräusch. Es ist auch sauber – nirgendwo liegt Müll. In den letzten eineinhalb Tagen habe ich entschieden, dass ich Frankreich mag; ich wünschte, wir könnten hier für immer leben und müssten nie mehr nach Hause fahren.
Ivo steigt aus dem Van und zündet sich eine Zigarette an. Er sieht genervt aus, was ziemlich häufig passiert. Er kommt zu mir und bietet mir eine an, aber ich schüttle den Kopf, weil Großmutter mich sonst anbrüllt. Sie raucht selbst wie ein Schlot, musste Mama aber versprechen, dass sie mich nicht lässt.
»Wie geht’s dir, mein Schatz?«
Ivo streichelt Christo übers Haar, und der schenkt ihm sein süßestes Lächeln. Mein Onkel ist oft launisch, aber er liebt Christo wirklich – das kann jeder sehen. Ich glaube, er ist vor allem unglücklich, weil die Ärzte seinem Sohn nicht helfen können. Und das kann man ja verstehen.
Ich reiche ihm Christo rüber – er ist so leicht –, und Ivo wandert mit ihm am Ufer des kleinen Sees entlang, die Kippe im Mund.
Der See ist künstlich angelegt, fällt mir auf, und ziemlich neu. In der Erde am Ufer sind noch die Narben der Baufahrzeuge zu sehen, und die Büsche sind von nackter Erde umgeben. Aber bald werden die Pflanzen die Erde bedecken, und dann wird
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