Was mit Rose geschah
fühlt, wenn man sie hört. Zum Beispiel Johnny Cash: Viele seiner Songs handeln davon, dass er jemanden getötet hat und jetzt im Gefängnis sitzt, wo es ihm schlecht geht, aber er hat es verdient. Die mag ich auch. Letztes Jahr mussten wir im Kunstunterricht ein Stillleben malen. Die meisten malten Obst und so was, aber ich entschied mich für Mordwaffen. Danach wollte die Lehrerin mit Mama sprechen. Aber sie waren nicht blutig oder so, mehr so Sachen wie bei Agatha Christie – Kerzenleuchter, ein Seil, Giftflaschen … (sie hatten keine Pistole im Schrank vom Zeichensaal, was schade war, die hätte ich gern dazugenommen). Und na ja, etwas zu malen ist nicht das Gleiche, wie es zu tun, oder? Und wenn man davon singt, wie einer Leute umbringt, ist das auch nicht das Gleiche, wie wenn man sie wirklich umbringt. Johnny Cash hat nie wirklich jemanden umgebracht, soweit ich weiß, und niemand will mit seiner Mutter sprechen. Manche Leute nehmen alles viel zu wörtlich.
Großonkel hat natürlich viel durchgemacht. Er hat nicht immer im Rollstuhl gesessen. Vor ein paar Jahren hatte er einen Autounfall, bei dem er sich das Rückgrat gebrochen hat. Er war allein auf der Straße und ist gegen eine Mauer gefahren. Es war ein Wunder, dass er überhaupt überlebt hat. Seitdem kann er nicht mehr laufen, und das macht das Leben im Wohnwagen echt schwierig. Sie wollten, dass er nach dem Unfall in ein Haus zieht, einen Bungalow ohne Stufen, denn es gibt ja keinen Wohnwagen ohne Stufen, und es ginge nicht anders. Großonkel sagte, er würde lieber sterben, als in einem Haus zu wohnen – er wäre kein Hauszigeuner und würde auch niemalseiner werden. Er sagte, er hätte seine Familie um sich, die würde es schon schaffen. Obwohl er seine Familie damals gar nicht um sich hatte: Da waren nur er und Ivo und Christo, aber als Großmutter und Großvater und Mama herausfanden, was ihm zugestoßen war, mussten sie natürlich Großonkel helfen, und Christo auch. Also sind wir seitdem alle wieder zusammen.
Das war vor etwa sechs Jahren. Damals ist wirklich eine Menge passiert. In unserer Familie kommt meistens alles auf einmal – als hätten wir eine Neigung zu Unfällen oder so. Großonkel hatte seinen Autounfall und musste ewig lang ins Krankenhaus, und ungefähr zur selben Zeit lief Ivos Frau Rose weg, weil sie herausgefunden hatte, dass Christo, der noch ein Baby war, die Familienkrankheit hatte. Lauter schlimme Sachen. Obwohl ich erst sieben war, tat es mir furchtbar leid. Vor allem, dass Rose einfach so weggelaufen war. Ich bin ihr nur einmal begegnet, bei der Hochzeit, aber sie war nett.
Na ja, eigentlich waren es mehrere Male innerhalb einiger Tage, so lange hat die Hochzeit gedauert. Es war eine einzige lange Party, auf der viel gegessen und getrunken wurde, soweit ich mich erinnere. Ich habe in einem Pub mit ihr Verstecken gespielt. Und ich erinnere mich an das komische Ding an ihrem Hals; sie legte immer die Hand darüber, um es zu verdecken, wodurch man es nur noch mehr bemerkte. Ich sagte, sie hätte einen schmutzigen Hals und müsse sich waschen, und sie erklärte, dass es nicht abginge. Ich starrte sie an und durfte es berühren. Es war weich, wie der Rest ihrer Haut, und gar nicht unheimlich.
Das Muttermal war mir egal. Ich fand sie echt nett, gar nicht wie jemand, der einfach wegläuft und sein Baby zurücklässt, weil es krank ist. Aber was wusste ich schon? Ich war ja noch ein Kind.
6
Ray
Man kann auch zu viel wissen. Niemand weiß das besser als ich. Unwissenheit ist ein Segen. Wissen ist Macht. Was ist Ihnen lieber? Zahllose Menschen sind wie Mr M. durch unsere Tür gekommen und haben sich für Variante B entschieden. Am Ende waren sie unglücklich und haben mich auch noch dafür bezahlt. Denn sie mussten es unbedingt wissen. Ich habe mal einen Kunden – einen sympathischen Mann – gefragt, ob er, nachdem er von der Untreue seiner Frau erfahren hatte, nicht lieber wieder in Unwissenheit leben würde. Er ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Nein, denn es gab etwas, was ich nicht wusste. Sie wusste es und ich nicht. Und das hat mir mein Leben gestohlen. Sie hat mich die ganze Zeit über belogen, und ich konnte nicht entscheiden, ob ich bei ihr bleiben wollte oder nicht. Sie hatte die Wahl und ich nicht. Das kann ich nicht ertragen. Diese verlorenen Jahre.«
»Aber Sie sind doch erst rückblickend unglücklich, seit Sie wissen, dass sie Sie betrogen hat. Vorher waren Sie nicht unglücklich. Die Zeit ist nicht
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