Was mit Rose geschah
kaum Anhaltspunkte. Zuerst kommen die üblichen Sachen: zentrales Straßenverkehrsamt, Wählerverzeichnis, Stadtwerke, Grundbuchamt. Der Name Rose Wood oder Rose Janko taucht nirgendwo auf. Das hätte mich auch überrascht. Bis heute haben nur wenige Roma einen Pass oder stehen im Wählerverzeichnis. Und wenn Rose ihren Namen geändert hat, werden wir dort ohnehin nichts finden. Bei Vermisstenfällen muss man sich an bestimmte Vorgehensweisen halten. Man überprüft die offiziellen Unterlagen – eine stumpfsinnige, zeitraubende Arbeit. Man setzt Kleinanzeigen in die Zeitung, in denen man der vermissten Person etwas Positives, zum Beispiel eine Erbschaft, in Aussicht stellt und sie bittet, Kontakt aufzunehmen. Wenn man nicht weiß, in welcher Gegend jemand wohnt, muss man ein sehr großes Netz auswerfen. Außerdem liest nicht jeder die Kleinanzeigen. Trotzdem, versuchen kann man es. Natürlich redet man auch mit den Leuten, die die vermisstePerson gekannt haben. Man beginnt mit der engsten Familie und zieht dann immer größere Kreise – Schulfreunde, Arbeitskollegen, Bekannte, Friseur, Arzt, Zahnarzt, Ladenbesitzer, Zeitungsbote … Nur scheint es bei Rose all diese Kreise nicht zu geben, es gibt nur einen. Keine Schulfreundinnen, da sie kaum zur Schule gegangen ist; keine Kolleginnen, weil sie nie gearbeitet hat. Es gibt nur die Familie: eine kleine, enge, geschlossene Gesellschaft, aus der sich ein braves Mädchen nicht wegbewegt.
Am nächsten Abend um halb acht trotte ich die Einfahrt zu Hens Haus hinauf. Dank Madeleines Geld leben sie in einem riesigen freistehenden Haus in einer grünen Gegend. Obwohl es viel zentraler liegt als meine Wohnung, fühle ich mich hier wie auf dem Land. Als ich klingle, öffnet Madeleine die Tür und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ich habe immer schon das Gefühl gehabt, dass Hens aristokratische Frau mich nicht leiden kann. Ein Blick aus ihren blassblauen Augen, und ich komme mir vor, als müsste ich zum Lieferanteneingang gehen.
»Ray … Wie schön, dich zu sehen. Es ist viel zu lange her.«
Ich habe eine Flasche Wein dabei. Vermutlich der falsche, aber darüber mache ich mir mittlerweile keine Gedanken mehr.
»Wie schön. Vielen Dank. Wir haben Charlie versprochen, dass du ihm noch eine Geschichte vorliest. Macht es dir was aus?«
Es macht mir nichts aus. Charlie ist ihr Jüngster und mein Patenkind. Ich weiß nicht, wie es Hen gelungen ist, Madeleine dazu zu überreden, vielleicht hatte er belastende Fotos in irgendeinem Schließfach.
Charlie klammert sich in der Küche an Hens Bein und schleift seine Kuscheldecke hinter sich her. Er schiebt seinen Daumen darunter und lutscht daran. Er hat das dünne helle Haar seines Vaters und begegnet dem Leben ebenso zurückhaltend wie dieser. Ich stelle die Weinflasche in den Kühlschrank. An der Türhängt eine getippte Liste der Fähigkeiten, die Charlie erlernen muss, um die Erziehungsziele zu erfüllen. Interessiert lese ich: »Sprache – er bekommt Sachen erst, wenn er sie richtig benannt hat. Er darf nur ohne seine Decke essen – nicht nachgeben!! Hand-Augen-Koordination – Plüschapfel oder blauen Ball werfen und fangen. Zahlen – jeden Tag wiederholen …« Die Liste ist laminiert. Charlie schaut mich aus wässrigen grünen Augen an, in denen ich eine leichte Verstimmung erkenne. Er weiß genau, dass ich die Liste morgen wieder vergessen kann, er aber tagtäglich damit traktiert wird. Er schleift mich nach oben, damit ich ihm vorlese – eine Geschichte von einem großen Wolf, der die Leute versehentlich erschreckt. Allerdings interessiert sich Charlie mehr dafür, mir zu erzählen, dass es ein großes Unwetter gab und er deswegen ins Bett gemacht hat.
»Wann war das, Charlie?«
»Als ich noch klein war.«
Charlie ist vier Jahre alt. Ich finde ihn erschreckend frühreif.
Für ein Essen in ihrem Haus ist der Abend durchaus erträglich. Es gibt einen unangenehmen Moment, als Madeleine mich damit überrascht, dass sie eine Freundin eingeladen hat – anscheinend in letzter Minute. Vanessa ist seit kurzem geschieden – natürlich reiner Zufall. Hen zieht die Augenbrauen hoch, um anzudeuten, dass er nichts damit zu tun hat, ich aber bitte einfach mitspielen soll. Tatsächlich ist Vanessa überraschend angenehm, keine übertriebenen Erwartungen, nicht sonderlich verbittert. Sie ist Rechtsanwaltsgehilfin, blond gesträhnt, mit einer kräftigen, aber wohlgeformten Figur. Wir essen Lasagne und trinken Rotwein (meiner hat
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