Was vom Tode übrig bleibt
starb.
Vor etwa drei Jahren hat er eine furchtbare Erkältung gehabt, oder wenigstens etwas, was er dafür gehalten hat, er hat mit meiner Frau Petra telefoniert, und die hat ihn dann nachdrücklich zum Arzt geschickt. Seine Frau, die zwei Jahre zuvor an Lungenkrebs gestorben war und die er noch bis zu ihrem Tode gepflegt hatte, hätte ihn vermutlich bereits viel früher zum Arztbesuch gedrängt. Wir jedenfalls konnten es nicht, er wohnte ja nicht bei uns in München, sondern im Rheinland, wo meine Frau herkommt, in Düsseldorf. Kurze Zeit später hat er meine Frau angerufen, gefragt, ob sie sitzt, und ihr dann gesagt, er habe nun ebenfalls Lungenkrebs und hätte nur noch ein halbes Jahr zu leben.
Weil seine Lungenwerte schlecht waren, wurde er geröntgt, und dabei hatte man jede Menge Schatten in den Lungenflügeln gefunden. So ganz überraschend war es nicht, er war starker Raucher. Wir haben meinen Schwiegervater in diesen zwei Jahren, die er letztlich noch gelebt hat, begleitet, und das war etwas ganz anderes als der schlimmste Einsatzort, der übelste Verkehrsunfall. Ich habe wie alle Rettungsassistenten viele Tote gesehen, aber hier waren meine Frau und ich selbst dabei und haben die ganze Vorgeschichte des Todes miterlebt. Wir beide sind uns einig: Wenn jeder so sterben müsste wie er, dann müsste man Angst vor dem Tod haben.
Mein Schwiegervater war erst 60 , und er war nicht im Geringsten zum Abschied bereit. Wie auch? Ich kannte ihn als tatkräftig, energisch, auch dickköpfig, als jemanden, der sich nicht leicht was sagen lässt, auch nicht von irgendwelchen Ärzten. Nur um mal ein Beispiel zu geben: Ich habe meine Kontakte genutzt und ihm kurzfristig einen Termin in einer Lungenklinik in der Nähe Münchens besorgt. Ich habe mir freigenommen und ihn in die Klinik begleitet, aber dummerweise haben sie uns dort etwas warten lassen. Zwei Stunden. Dann steht er auf, sagt, dass er nicht mehr länger wartet, und marschiert ab. Was soll man machen? Der Mann ist schließlich erwachsen.
Vierzehn Tage ist er anschließend noch bei uns geblieben und hat sich ein bisschen bemuttern lassen. Ich habe mir Urlaub genommen, wir haben morgens Brotzeit gemacht, das war schon eine schöne Zeit, die gefiel ihm sichtlich, die Gesellschaft, er hatte sein Bierchen, er hatte seine Tochter um sich herum, und dann ist er nach Köln gefahren in eine Klinik. Dort haben sie ihm die komplette linke Lungenhälfte entfernt. Wir haben ihn drei Tage später besucht und gedacht, dass er noch auf der Intensivstation liegt, aber er war praktisch schon fertig zur Entlassung. Und die Klinikärzte sahen seinen Zustand offenbar auch positiver als der erste Arzt: Wenn er nicht mehr rauchen würde und es keine Metastasen gäbe, dann könnte das noch zehn Jahre so weitergehen, hieß es. In seinem Alter würde alles langsamer ablaufen als bei einem Dreißigjährigen. Ich selbst war auch fast beruhigt, jedenfalls war ich fasziniert davon, wie schnell man sich nach Lungenoperationen erholt. Das schien ja noch einmal glimpflich abgegangen zu sein.
Natürlich hat er weitergeraucht. Man denkt sich ja immer: Wie konnte er nur? Aber das machen die meisten Raucher. Und im Nachhinein war es wohl auch egal. Die Nierenschmerzen wären auch so gekommen. Er hat Petra am Telefon davon erzählt, die hat ihn zum Arzt geschickt, und dort haben sie dann die Schatten auf der Niere gefunden.
Mein Schwiegervater ist kein einfacher Mensch gewesen. Er wusste ziemlich genau, was er hören wollte und was nicht. Sternzeichen Löwe. Und als der Arzt zu ihm sagte: » Also, wir haben jetzt Metastasen in der Niere, das wird wohl nur noch ein Jahr dauern«– da hat er den Arzt gewechselt. Was weiß schon ein Arzt? Sagt der eine, dass man sterben muss, sucht man sich einen zweiten und einen dritten. Und so ganz verdenken kann ich es ihm nicht, nach der Auskunft seines ersten Arztes hätte er ja schon längst tot sein müssen. Dann hatte es aber geheißen, er hätte noch zehn Jahre– unter diesen Umständen ist eine zweite Meinung wahrscheinlich doch hörenswert. Aber leider sagte der zweite Arzt diesmal dasselbe.
Ich habe nie verstanden, warum er nicht einfach sein gesamtes Geld genommen hat, um sich davon ein wunderschönes letztes Jahr zu machen. Die Ärzte haben es wohl ähnlich gesehen. Aber selbst wenn der erste Arzt sagt: » Nutzen Sie Ihre Zeit. Tun Sie, was Ihnen wichtig ist. Und tun Sie es jetzt.« Und der zweite dies sogar bestätigt– je länger man sucht,
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