Was will man mehr (German Edition)
schlecht verstehen. Wo bist du?»
Ich steuere den zweiten Umkleideraum an, in der Hoffnung, dass es dort etwas ruhiger ist.
«In Paris. Ich schaffe es nicht zur Hochzeit. Wie es gerade aussieht, schaffe ich es nicht mal nach London. Tut mir echt leid.»
Der zweite Nebenraum dämpft die Geräusche von außen merklich.
Ich spüre, dass Audrey noch etwas anderes auf dem Herzen hat. «Das ist schade», sage ich. «Aber da kann man dann ja leider nichts machen.» Kurze Kunstpause. «Sonst alles okay?»
Sie schluchzt. «Nein, Paul. Nichts ist okay. Ich kriege mein Leben einfach nicht auf die Reihe. Mein Job frisst mich auf. Deshalb kann ich mich nicht um meinen Sohn kümmern. Ich weiß nicht, wann sich das ändert, weil ich bereits zwei weitere Aufträge angeboten bekommen habe. Und zu allem Überfluss will mich ein amerikanischer Soziologe, der demnächst ein Jahr lang in der australischen Wildnis leben wird, heiraten.»
«Das klingt kompliziert», erwidere ich. Ich hoffe, Audrey erwartet nicht, dass wir nun darüber diskutieren, ob man sich den Arsch abarbeiten und amerikanische Soziologen heiraten sollte. «Wir können das gerne bei Gelegenheit besprechen. Ist nur gerade schlecht, weil sich deine Großmutter und dein Vater streiten. Und deine Stiefmutter.»
«Ludmila ist da?», fragt Audrey verblüfft.
«Ja. Und ich muss hier jetzt mal intervenieren, sonst werden wir bestimmt noch alle aus der Kirche geworfen.»
«Warte, Paul! Nur eins noch! Geht es Dragijonarah gut?»
«Ja. Es geht ihm sehr gut. Mach dir keine Sorgen.»
«Okay. Danke. Gib Melissa einen Kuss von mir. Sie soll mich anrufen.»
Das Gespräch wird beendet, im gleichen Moment öffnet sich die Tür, und Mulligan erscheint. Er wirkt besorgt. Ich gehe davon aus, dass der Trubel in der Sakristei dafür verantwortlich ist.
«Nur ein kleiner Familienstreit», spiele ich den Krawall im Nebenraum herunter. «Ich kümmere mich sofort darum.»
Mulligan winkt ab. «Wir haben ein ernstes Problem. Sie sollten mal nach draußen gehen.»
Er sieht mein fragendes Gesicht und fügt hinzu: «Ihre Betty Crowley wartet vor der Tür. Und sie hat Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.»
Ich schüttele energisch den Kopf. «Ganz sicher nicht. Iris ist in Montevideo. Und wenn sie klug ist, dann bleibt sie da auch.»
Mulligan sieht mich an. «Es klang wichtig, und es klang eilig. Wollen Sie nachsehen, oder wollen wir diskutieren?»
Mit den Armen rudernd, wühle ich mich durch die lautstark diskutierende Hochzeitsgesellschaft, während das Glockengeläut nun noch von dröhnender Orgelmusik übertönt wird.
Ich reiße die Tür ins Freie auf, als würde ich den Raum hinter mir mit Stille fluten wollen. Dann sehe ich sie. Iris. Sie ist es tatsächlich. Sie hat Mary-Ann auf dem Arm, ist dezent gebräunt und trägt ein hübsches gelbes Sommerkleid. Ich kann gerade weder etwas sagen noch etwas tun. Ich stehe einfach nur da und staune.
«Hallo, Paul. Ich wollte vermeiden, dass du mich siehst und mir im Affekt an die Gurgel gehst», sagt sie. «Deshalb habe ich den Priester gebeten, dich mal kurz rauszuschicken.»
Es klingt wie eine normale Begrüßung, und vielleicht ist es diese Normalität, die mich meine Sprache wiederfinden lässt. «Was macht dich so sicher, dass ich dir nicht jetzt an die Gurgel gehe?», frage ich.
«Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist …», beginnt Iris.
«O nein!», unterbreche ich barsch. «Sauer ist man auf Leute, die geliehene DVDs einfach behalten. Oder die einen bei einer Verabredung eine halbe Stunde warten lassen. Du hingegen hast mein Leben versaut. Auf solche Leute ist man nicht nur sauer, sondern grenzenlos wütend!»
Sie lächelt ein wenig. Ich bin irritiert.
«Ich hab mir schon gedacht, dass du so reagieren würdest», sagt sie. «Ich kann dir alles erklären. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Die Polizei ist nämlich auf dem Weg hierher. Das Brautpaar sollte also schnellstmöglich verschwinden.»
Ich versuche gerade, die diversen Informationen in diesen Sätzen zu verarbeiten und darüber hinaus die Frage zu beantworten, warum Iris überhaupt weiß, was hier vor sich geht, da höre ich Günther sagen: «Sie hat recht. Wir haben vielleicht zehn Minuten. Mit viel Glück.»
Günther hat Jona auf dem Arm, der sich dort wie üblich pudelwohl fühlt und nun obendrein Mary-Ann anstrahlt. Zumindest Cousin und Cousine verstehen sich also prächtig. In seiner freien Hand hält Günther sein Handy und verfolgt offenbar das
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