Was wir erben (German Edition)
auf mein Zimmer. Drücke das Gesicht ins Kissen, schreie, so laut es geht, und trampel mit den Füßengegen die Matratze. Später erzählt mir die Mutter Geschichten aus der schlimmen Zeit. Wie der Vater den Bruder malträtiert hat, dass der Vater nächtelang verschwunden war und mit zerschlagenem Gesicht nach Hause kam. Sie erzählt davon, dass sie manchmal kein Geld mehr hatte, um ihren Kindern Essen und Kleidung zu kaufen. Von der Angst, die sie vor seinen Ausbrüchen hatte. Und ich denke: Für ihn bin ich Luft.
Ich sitze im Zug. Großraumwagen mit Tisch. Eben habe ich gedacht, ich hätte das Foto zu Hause vergessen. Ich bin aufgesprungen, habe meinen Rucksack von der Ablage gezerrt und dabei beinahe die Frau auf dem Sitz hinter mir erschlagen. Ich habe hektisch den Rucksack durchwühlt. Mir ist der Schweiß aus den Poren geschossen. Herzrasen. Ich hätte gleich wieder zurückfahren können, wenn ich das Foto vergessen hätte. Jetzt liegt die Mappe mit den beiden Bildern (Uta, der Vater, Deine Mutter) neben dem Computer auf dem Tisch. Ich schlage den grünen Papphefter alle paar Minuten auf. Deine Mutter wird immer schöner, je öfter ich sie betrachte. Ihr Mund ist einen Spalt geöffnet. Die Unterlippe ist etwas kräftiger geraten als die Oberlippe. Wie bei Uta, der Figur aus dem Naumburger Dom. Bei manchen Leuten verschwinden die Lippen im Mund. Das sieht verhärmt aus, enttäuscht. Als ich Holger das Bild gezeigt habe, sind ihm gleich die Lippen aufgefallen. Schau dir das an, hat er gesagt, das sind ideale Lippen. Als hätte ein wirklich guter Botox-Künstler daran gearbeitet. Einer, der so spritzt, dass man anschließend nichts sieht. Ein Vertreter des
German Style
, so nennen das die Chirurgen. Der
German Style
sollNatur vorgaukeln. Beim
American Style
geht es um das Gegenteil. Man soll sehen, was gemacht wurde. Riesenbusen, Schlauchbootlippen, straffe Gesichtshaut. Bei Euch ist die Operation Statussymbol und Bekenntnis zur Künstlichkeit. Bei uns ist das anders. Der Eingriff soll unsichtbar bleiben. Die Kunst soll die Natur bis zur totalen Deckung nachahmen. Und dann kann man so tun, als sei die künstlich veränderte Natur die eigene. Die reine Lüge. Deshalb werden bei uns Leute verklagt, wenn sie von jemandem behaupten, er sei beim Schönheitschirurgen gewesen. Das Künstliche gilt als billig, verlogen, obszön. Ein albernes Versteckspiel. In den Siebzigern war das kein Thema. Deine Mutter ist ein völlig anderer Typ als die Mutter, die ich jetzt besuche. Die Mutter ist klein, dünn und hat dunkle Haare. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen. Eine nervöse Gestalt. Als sie jung war, passte ihr schmales Gesicht zu ihrer sportlichen Figur. Die glatte Haut von damals ist heute unter den Sorgenfalten nicht mehr zu erahnen. Der drahtige Gang wirkt mittlerweile wie ein ungelenker, hastiger Versuch, schneller zu sein, als sie eigentlich zu sein vermag.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Mutter von Dir erzählen soll. Wenn sie nichts weiß, dann verletzt es sie im Nachhinein. Wenn sie ahnungslos ist, dann will ich ihr diesen neuen Grund, den Vater zu hassen, nicht liefern. Wenn sie etwas weiß, dann wird sie versuchen, die Sache herunterzuspielen.
Eben war ich im Zugrestaurant. Ein älterer Herr hatmich auf das Buch angesprochen, das ich vor der Abreise in der Bahnhofsbuchhandlung entdeckt habe:
Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone.
Junge Frau, hat er gefragt, darf ich Sie stören, und gleich losgelegt, ohne meine Antwort abzuwarten. Warum ich mich denn für diese Figur interessiere, das sei ungewöhnlich für so eine
junge Dame.
Er selbst fahre jedes Jahr nach Naumburg, um sich die Stifterfiguren anzusehen. Er sei froh, dass man wieder überall hinreisen dürfe, gerade diese Kulturschätze, die man im Osten in diesem kulturfeindlichen Klima des Sozialismus gar nicht zu achten gewusst habe, gerade die hätten es ihm angetan. Bei den
Roten
sei alles gnadenlos den Bach runtergegangen, aber jetzt würde wieder Wert gelegt auf die Vergangenheit und die Kulturgüter und die schönen Dinge des Lebens. Mein Interesse sei rein zufällig, habe ich geantwortet und bin zurück zu meinem Platz.
Ich schicke Holger eine SMS nach der anderen. Mit jeder Station, die der Zug hinter sich lässt, steigt meine Unruhe. War Holger so entspannt, weil er uns schon aufgegeben hat? Hat er die Geschichte mit dem Araber erfunden, um mich ruhigzustellen? Was war das heute Morgen für ein leidenschaftsloser Abschied? Ich vermisse
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