Was wir erben (German Edition)
Eigentlich wollte ich länger bleiben, aber ich kann nicht. Der Bestatter hat sich in der Wohnung breitgemacht. Überall liegen seine Sachen rum. Kleider. Medikamentendöschen. Rätselhefte. An der Wand über demFernseher hängt das Bild von seiner Verabschiedung aus dem Bestattungsunternehmen. Er hat sich hier ein bisschen eingerichtet, hat sie gesagt, als er den Müll nach draußen gebracht hat. Sein Haus werde umgebaut. Oben ziehe sein Sohn ein mit seiner Familie und unten werde ihm eine Einliegerwohnung eingerichtet. So lange sei er halt hier bei der Mutter. Ich habe versucht, mit der Mutter über den Vater zu sprechen. Der Bestatter hat eine Weile schnaufend zugehört. Dann hat er laut losgelacht und erzählt, wie er als Jugendlicher nach dem Krieg beim Holzklauen erwischt worden sei. Und dann verließ er uns, um auf Toilette zu gehen:
– Seid wann seid ihr ein Paar?
– Eine ganze Weile.
– Wie lange?
– Er ist ganz anders als dein Vater. Wir wandern. Wir machen Ausflüge. Er liebt die Natur. Er liebt das Leben. Was ich mir immer gewünscht habe.
– Warum hast du mir nichts erzählt?
– Weil ich.
– Weil du was?
– Weil ich nicht wollte.
– Du hättest.
– Ich hätte was?
– Ich bin deine Tochter.
– Na und.
– Wenn die Mutter einen neuen Freund hat, erzählt sie das ihrer Tochter. So ist das normal.
– Das ist mein Leben.
– Das ist nicht allein dein Leben.
– Bist du deswegen gekommen? Um mir das zu sagen?
– Ich will über den Vater reden.
– Siehst du. Immer dreht sich alles nur um ihn.
Der Bestatter kam zurück: Man soll die Toten ruhen lassen, rief er und nahm sich noch ein Stück von dem säuerlichen Pflaumenkuchen. Ich bin ins Schwimmbad gegangen. Wie früher. Ich bin eine Stunde am Stück geschwommen. Mehr als drei Kilometer.
Ich bin ein Jahr vor dem Abitur von zu Hause ausgezogen. Der Vater war schon pensioniert. Und trank wieder. Jeden Tag. Er stand vor mir, mit glasigem Blick, und sagte: Das ist normal, dass junge Leute von zu Hause ausziehen. Ich habe ihn angeschrien. Nein, das ist nicht normal, das ist krank. Du bist ein Säufer und ich halte das Leben mit dir nicht mehr aus. Er hat den Satz von der Normalität einfach wiederholt. Immer wieder.
Ich schaue mir das Bild an. Immer wieder. Ich vermisse den Vater. Zum ersten Mal, seit er tot ist.
Die Mutter und ich sind heute am Abend nach dem Schwimmen durch den Wald gelaufen. Es dämmerte schon. Dein Vater, hat die Mutter gesagt, war völlig von der Rolle. Er war kaum noch zu Hause. Er ging früh morgens in die Akademie und kam in der Nacht zurück. Und wenn ich mit ihm reden wollte, hat die Mutter gesagt,wurde er wütend. Ich war mit Ute und Sven beschäftigt. Ich war allein. Ich konnte deine Schwester nicht eine Minute aus den Augen lassen. Manchmal, hat die Mutter gesagt, kam er nachts besoffen nach Hause. Ich hatte meine eheliche Pflicht zu erfüllen. So bist du entstanden, hat die Mutter gesagt, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Ich stelle mir vor, wie das aussieht: die Erfüllung der ehelichen Pflicht.
Ich bin auf dem Waldweg stehen geblieben und habe die Mutter an den Armen gepackt und ihr lange in die Augen gesehen. Und dann habe ich streng mit ihr gesprochen. Wie mit einem unartigen Kind. Die Mutter war überrascht und dann, so schien es, war sie plötzlich erleichtert. Ich war die Mutter. Sie das Kind. Jetzt sprich endlich, habe ich gesagt. Ich will es genau wissen. Streng dich an. Wir standen da im Wald und ich hielt sie an beiden Armen. Je dicker mein Bauch wurde, um so härter wurde es mit ihm, hat die Mutter gesagt. Sie hat erzählt, dass er oft weg war. Manöver. Tagungen. Irgendwelche Dienstreisen. Und jedes Mal, wenn er zurückgekommen sei, habe die Mutter gedacht: Es wird immer schlimmer. In den letzten drei Monaten der Schwangerschaft seien die Dämme gebrochen. Der Vater habe nur noch getrunken. Er sei so gut wie nicht mehr zu Hause gewesen.
Die Schwangerschaft mit mir sei die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen.
Als ich auf der Welt gewesen sei, habe sie Besuch von zwei Männern bekommen. Die Männer hätten gesagt,dass sie vom Ministerium seien und sich Sorgen machten um den Vater. Immerhin habe er eine verantwortungsvolle Position und sie wollten sich ein Bild machen von seiner privaten Situation. Sie hätten von Geheimnissen und von Verantwortung und von der angespannten politischen Lage gesprochen. Die Gespräche mit den Männern hätten ihr gut getan. Sie hätten ihr nahegelegt,
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