Was wir erben (German Edition)
hat der Intendant verständnisvoll gesagt, ich habe mir den Spielplan angeschaut, heute ist deine letzte Vorstellung für diese Spielzeit. Ich habe Nele vorgeschlagen, dich früher in die Ferien zu entlassen. Wir schenken uns die letzte Probenwoche und du gehst in Urlaub und dann, in sieben Wochen, fangen alle erholt wieder an, und ich bin mir sicher, die Welt wird anders aussehen. Er hat gütig und etwas verschwörerisch gelächelt und dann hat er mir seine flache Hand zum Einschlagen entgegengestreckt, eher so wiedas Kumpels machen, wenn sie sich beiläufig ihrer Freundschaft versichern. Unsere Hände sind aufeinander geklatscht, aber anstatt meine Hand abzustoßen, wie es eigentlich üblich gewesen wäre, hat er meine Finger gegriffen und sie fest zusammengedrückt. Ich habe versucht, die Hand wegzuziehen, dabei habe ich meinen Arm verdreht und stand plötzlich mit nach unten gebeugtem Nacken vor ihm, so als wollte ich ihm meinen Kopf auf den Brustkorb drücken. Diese verunglückte Geste hat mir die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Zugleich habe ich frohlockt. Ich bin frei, ich muss nicht mehr zu diesen Proben gehen, ich kann los, nichts hält mich länger. Also los zur Mutter. Und dann nach Naumburg. Ich kann endlich mehr rausfinden über den Vater. Ich habe mich aus dem Griff befreit, den Intendanten umarmt und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben.
Im Kleiderschrank des Vaters hingen nebeneinander der schwarze Talar, die silbergraue Ausgehuniform und der braune Winteranzug. Auf der Ablage Stahlhelm, Uniformmütze und Pelzhut. Manchmal, wenn die Eltern nicht zu Hause waren, habe ich die Kleidungsstücke des Vaters angezogen. Ich bin in dem riesigen Talar versunken und habe ihn wie eine Schleppe hinter mir hergezogen. Auf dem Kopf der Stahlhelm. Die Uniformjacke mit den steifen Schulterstücken (Eichenlaub mit einem Stern: Major) reichte bis zum Boden. Ich stand vor dem großen Spiegel, der in die Tür des Schrankes eingelassen war, und betrachtetemich von allen Seiten. Ich betastete die Stoffe. Ich roch an ihnen. Ich salutierte und erteilte der Gemeinde den Segen. Einmal kam der Vater früher als erwartet nach Hause, weil er krank war. Ich hörte die Haustür und geriet in Panik. Ich kramte schnell alles zusammen und stopfte den Talar, die Uniform und ein paar weiße Hemden hastig in den Schrank. Da hörte ich schon, wie der Vater die Treppe hochkam. Ich hatte panische Angst, bei meiner Kostümprobe erwischt zu werden, weil ich wusste, dass der Vater einen Wutanfall bekommen würde. Ich stieg in den Schrank, setzte mich auf den zerknüllten Talar, den Helm noch auf dem Kopf, und zog die Türen zu. Der Schrank knarrte bei jeder Bewegung. Durch das Schlüsselloch fiel ein zartes Licht in das Verließ. Ich hörte, wie der Vater das Zimmer betrat. Ich hielt die Luft an und guckte durch das winzige Schlüsselloch. Der Vater stand vor dem Schrank und zog sich aus. Er ließ die olivgrünen Uniformteile auf den Boden fallen. Und so sah ich den Vater zum ersten und letzten Mal nackt: sein weißer, faltiger Hintern. Er ließ sich krachend auf sein Bett fallen. Der Vater schnäuzte sich und hustete und stöhnte und dann wurde es ganz ruhig und ich hörte nur noch seinen regelmäßigen, schweren Atem. Ich saß in der Falle. Mich zu stellen, war keine Option. Ich musste ausharren. Es wurde bald stickig in dem Gehäuse. Es stank nach Schweiß, Mottenpulver und Waschmittel. Mir wurde übel. Als ich mich nach ein paar Minuten aus der ersten Verkrampfung gelöst hatte, spürte ich, dass ich auf Toilette musste. Ichversuchte, den Harndrang zu ignorieren. Ich fantasierte mich ins Schwimmbad und sprang vom Startblock und schwamm das Rennen meines Lebens. Der Trainer umarmte mich, meine Mannschaftskolleginnen sangen auf der Heimfahrt sogar ein Lied für mich. Ich hatte die Ehre des Vereins gerettet, weil ich die Einzige gewesen war, die ihr Rennen an diesem Tag gewonnen hatte. Die Mutter empfing mich zu Hause mit einer selbst gebackenen Torte und der Vater zückte sein Portemonnaie, um mich für meine
hervorragende
Leistung zu belohnen. In Wirklichkeit konnte ich nicht mehr anhalten. Ich presste meinen Unterleib, so fest ich konnte, in den zerknüllten Talar und ließ laufen. Ich pinkelte in Vaters teuerstes Kleidungsstück. Das war befreiend. Und warm. Der schwarze Stoff saugte alles auf. Durch das Schlüsselloch konnte ich jetzt seinen Fuß sehen. Die Zehen ragten in den Himmel. Bewegungslos wie Wachposten, die konzentriert in
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