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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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die Umgebung horchen. Es schien, als sei er eingeschlafen. Ich wartete noch ein paar Minuten, mit angezogenen Beinen auf dem durchnässten Stoff sitzend. Der Vater hatte einen tiefen Schlaf, der kaum zu stören war. Das wusste ich. Die Türen knarzten beim Öffnen. Es half nichts, ich musste da raus, zumal die Mutter irgendwann nach mir suchen würde. Der Vater schlief auf dem Rücken. Draußen dämmerte es schon. Ich stieg, so leise es ging, aus dem Schrank und stellte einen Stuhl vor die geöffnete Tür, um den nassen Talar wieder auf die Stange zu hängen, sonst würde alles auffliegen. Der nächste Gottesdienst war erst in einpaar Tagen, bis dahin sollte das Ding getrocknet sein. Der Vater hustete. Dabei wippte sein Schwanz auf und ab. Wie angewurzelt stand ich da und betrachtete den nackten Vater. Die Mutter war nach Hause gekommen. Sie rief nach mir.
    Holger hat vorgeschlagen ins
München 72
zu gehen. Das Café hängt voll mit Bildern von den Spielen. Ich kann gar nicht genug kriegen von diesen Bildern, habe ich ihm auf dem Weg ins Café gestanden. Er hat gelächelt. In solchen Momenten kommt mir Holger vor wie ein Verwandter. So als wäre er ein Teil von mir, ob ich will oder nicht. Der Laden war ziemlich voll. Flip-Flops und Siebzigerjahre-Frisuren. Holger hat den letzten freien Tisch in der Ecke neben einem orangefarbenen Fernsehgerät ergattert. Am Nebentisch ein junges Pärchen mit einem schlafenden Säugling. Die Frau schob sich andauernd die Haare hinters Ohr. Ihr Freund mit Military-Mütze blätterte in einem Familienmagazin, in dem alle Menschen auf den Fotos genauso aussehen wie er und seine Freundin. Holgers Blicke wanderten immer wieder zu den Tischnachbarn. Verstohlen beobachtete er die Mama, wie sie an ihrem schlafenden Kind rumfummelte. Ohne von seinem Magazin aufzuschauen, sagte der Papa: Hier im Heft ist unser Kinderwagen. Den haben alle. Ein seliges Lächeln ging über Mamas Gesicht: Toll! Ups, jetzt ist er aufgewacht. Lautstarkes Fürsorgetheater. Deckchen. Hütchen. Schnuller. Holger beugte sich zu mir: Stört dich das Kind? Nein, logich, aber weißt du, was: Manchmal glaube ich, diese Leute werden irgendwann töten, um ihren Wohlstand zu verteidigen. Der Kellner kam an unseren Tisch. Ein junger Typ mit T-Shirt, auf dem das Logo von München 72 drauf war. Dackel Waldi. Wir bestellten Kaffee. Zweiundsiebzig ist mein Geburtsjahr, sagte ich zu Holger, für diese Leute hier ist das nur Deko. Das Baby am Nebentisch nuckelte am Busen seiner Mutter. Holger konnte seinen Blick gar nicht mehr abwenden. Die Eltern haben nicht bemerkt, dass er der Frau unentwegt auf die Brust gestarrt hat. Die beiden waren gebannt von ihrem Kind und seiner Nahrungsaufnahme. Woher sollen die wissen, was 72 für dich bedeutet, sagte Holger, ohne mich anzusehen.
    – Holger, ich muss weg! Ich muss rauskriegen, was da los war. Er hat ein Bild von Uta in ihren Sachen gefunden.
    – Von deiner Schwester?
    – Nein, von dieser Figur. Uta. Naumburger Dom.
    – Weiß deine Mutter von deinem neuen Bruder?
    – Er heißt Paul.
    – Paul. Erzählst du’s ihr?
    – Nein.
    – Warum nicht?
    – Weil ich rauskriegen will, ob sie was weiß. Wenn ich’s ihr sage, dann fängt die Lügerei wieder an. Oder ich verletze sie.
    – Was ist mit den Proben?
    – Vorbei.
    – Jetzt schon?
    – Die haben mich nach Hause geschickt.
    – Warum?
    – Erschöpfung.
    – Und unser Urlaub?
    – Den müssen wir verschieben.
    – Dann fahre ich alleine.
    – Ohne mich.
    – Ohne dich.
    – Wir holen das nach.
    – Bald gehen die Prüfungen los.
    – Ich muss da jetzt hin.
    – Vielleicht geht es schnell.
    – Vielleicht.
    – Als ich im Schwimmbad versucht habe, diesen alten Mann wiederzubeleben, ist mir klar geworden, warum ich mich für Plastische Chirurgie entschieden habe. Ich brauche Zeit, zum Planen. Hört sich ganz schön spießig an, ich weiß, aber ich bin ein langsamer Mensch. Wenn wir einem Kind die Gaumenspalte entfernen oder eine junge Frau von ihren Rüsselbrüsten befreien, dann habe ich Zeit, alles ganz genau vorzubereiten. Ich kann mich auf mögliche Komplikationen einstellen, ich kann ausführlich mit den Patienten reden. Wenn ich mich sicher fühle, bin ich am besten. An dem Abend nach meinem gescheiterten Wiederbelebungsversuch ging es mir so schlecht wie lange nicht mehr. Nicht wegen des Toten. Das ist normal, dass Leute sterben. Es war, weil ich mich bei dir nicht mehr sicher gefühlt habe.
    Holger war ganz ruhig, als er das

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