Was wir erben (German Edition)
gesagt hat.
– Ich weiß nicht mehr, wer du bist. Vielleicht macht es mir Angst, dass du dich so schnell veränderst. Seit dieser Paul aufgetaucht ist, lebst du in einer anderen Welt.
Er müsse mir unbedingt eine Geschichte erzählen, die ein älterer Kollege beim Mittagessen zum Besten gegeben habe. Das sei kein Zufall. Diese Geschichte. Ausgerechnet heute. Der Kollege betreibe eine gut laufende Praxis für Plastische Chirurgie. Ein Araber aus irgendeinem Emirat sei zu ihm gekommen, um sich die Nase machen zu lassen. Dafür sei der Kollege berühmt. Er mache die besten Nasen in ganz Deutschland. Und dann habe der Arzt den Araber gefragt, warum er denn ausgerechnet seine vorzügliche Nase machen lassen wolle, die sei doch schön, markant, passe gut zu seiner sonstigen Erscheinung. Und da sei der Araber unruhig geworden und sei von seinem Stuhl aufgesprungen und habe sich im Profil vor dem Spiegel aufgebaut und ganz laut und ganz deutlich verkündet: Diese Nase ist mir zu jüdisch. I don’t like this jewish shape. Machen Sie das weg, bitte, machen Sie das weg, so schnell wie möglich, ich halte das nicht mehr aus! Stell dir das doch mal vor, hat Holger gesagt. Da fragt ein Araber einen Deutschen, ob er ihm das jüdische Profil weghobeln kann. Und plötzlich ist alles gleichzeitig da. Der Orient und der Okzident, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Die Nazis, das Geld, die Globalisierung, Deutsche, Juden, Araber, Schuld, Verantwortung, Vergessen, Erinnern, das alles in der einen Szene. Das ist wie hierim
München 72.
Alles hängt mit allem zusammen. Das Heute kann man nicht vom Gestern trennen. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Lügner. Elisabeth, sagte er, wir werden so ein bisschen Trennung schon aushalten.
Hättest du ihn operiert, habe ich ihn gefragt. Niemals, hat er geantwortet. Mich interessieren Widerherstellungen. Schönheit ist mir zu heikel.
Ich bin zwölf oder dreizehn. Der Vater, die Mutter und ich sitzen sonntags am Mittagstisch. Der Vater am Tischende. Die Mutter zu seiner Rechten. Ich dem Vater gegenüber. Es gibt Kotelett, Kartoffeln und Rosenkohl. Die Mutter verteilt das Essen auf die Teller. Niemand sagt ein Wort. Ich habe keinen Hunger. Der Vater streicht sich über den Bart. Reibt seine Hände. Ich schließe die Augen und halte die Luft an. So lange es geht. Mein Bauch bläht sich auf. Ich wünsche mir, wegzufliegen, wie ein Ballon. Ich höre, wie sich der Vater den ersten Bissen in den Mund schiebt. Er kaut. Er schmatzt. Das Besteck kratzt auf dem Porzellan. Die Geräusche werden immer lauter. Ich blase die verbrauchte Luft aus mir raus. Reiße die Augen auf. Der Vater starrt auf seinen Teller und schaufelt mit der Gabel das Essen in sich hinein. Die Mutter gibt mir Zeichen. Sie schüttelt den Kopf, sie nickt. Sie deutet auf das Essen. Tonlos. Der Vater kaut mit offenem Mund. Fleisch und Rosenkohl und Kartoffeln und Sauce vermischen sich in seinem Schlund zu einem fiesen Brei. Es blubbert und malmt und zischt und mahlt und schnalzt.Sein Gebiss klackt beim Kauen und schiebt sich bei jedem Bissen nach vorne. Ich fixiere ihn mit aufgerissenen Augen. Ich reiße den Mund auf. Ich stemme die Füße gegen den Fußboden, kralle mich an der Tischkante fest. Er kaut weiter und nimmt nicht wahr, was sich ihm gegenüber am Tisch abspielt. Er kaut weiter mit gesenktem Haupt. Immer weiter. Eigentlich möchte ich sagen, bitte, Vater, bitte hör auf zu schmatzen. Mach den Mund beim Essen zu, bitte, ich ertrage dieses Geräusch nicht. Aber ich wage es nicht, auch nur einen einzigen Laut des Missfallens von mir zu geben. Kein Ton kommt mir über die Lippen. Ich habe Angst vor seiner Wut. Vor dieser Wut, die unter der Oberfläche brodelt und kocht und manchmal aus seinen Augen blitzt. Ich halte Messer und Gabel in den Händen. Ich stelle mir vor, wie ich auf ihn einsteche. Immer wieder. Anstatt das Wort zu ergreifen und den Vater zu bitten, leiser zu essen, anstatt sich wie eine erwachsene Frau zu verhalten und den Knoten unserer Ohnmacht zu lösen, knallt die Mutter ihr Besteck auf den Teller und verlässt heulend den Raum. Der Vater sieht mich an und fragt: Was hat sie denn? Ich stehe ebenfalls auf und renne der Mutter hinterher. Die Wut auf den Vater ist schlagartig dem schlechten Gewissen der Mutter gegenüber gewichen. Ich entschuldige mich bei der Mutter. Sie schluchzt und sagt: Mach dir um mich keine Sorgen. Dann geht sie zurück zu ihrem Mann, um den Tisch abzuräumen. Ich verschwinde
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