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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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winkte. Ihr Haar war weiß und lockig, und als die Türen mit einem Fauchen aufglitten, sah Lambert, dass es mit einer goldenen Schleife zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Furchtbar langsam stieg sie die paar Stufen hinauf, ihr Rücken war so krumm, dass man glauben mochte, sie hätte gar kein Gesicht. Lambert s prang gleich auf, um ihr seinen Platz am Eingang anzubieten. Sie konnte kaum zu ihm aufsehen, aber als sie den Kopf zur Seite drehte, um ihm zu danken, erkannte Lambert, dass sie einen kräftigen weißen Damenbart trug, mit strähnigen Härchen unter der Nase und am Kinn. Sie sah aus wie ein in die Jahre gekommener Folksänger.
    Der Busfahrer redete schon wieder. »Eine andere Sache«, sagte er gerade, »eine ganz andere Sache. Das mit den Frauen. Kennst du die Frauen?«
    Sofort s pielte Lambert alle Möglichkeiten durch. Bis gestern hätte er mit Ja geantwortet, womöglich aus Gewohnheit. Seit heute Morgen aber war jede Sicherheit dahin. Kannte er die Frauen? Er war selbst ge s pannt, was er gleich antworten würde.
    Der Fahrer allerdings nicht. Ohne Zögern fuhr er fort: »Ich verrate dir mal was. Am schlimmsten sind die mit den Büchern. Die Frauen, wenn sie Romane lesen, verlieben sich in die männlichen Helden. Selbst die verheirateten Frauen.« Er wechselte in einen anderen Gang. »Die Menschen sind schwach. Ganz schwach.«
    Dazu konnte Lambert nichts sagen. Abgesehen von seinem neuerdings eingeschränkten Verständnis für Frauen fühlte er sich auch nicht in der Verfassung, Abschließendes zu den Menschen im Allgemeinen zu äußern. Er war kein Held. Schon gar kein Romanheld.
    Vor einer Kirche entdeckte Lambert ein riesiges Schild, auf dem in Steckbuchstaben eine Nachricht an die Vorbeireisenden stand: Zufall ist, wenn Gott unerkannt bleiben möchte.
    Ansonsten habe, sagte der Fahrer, Johnny Cash zu dem Thema, wie man es mit den Frauen aushalte, erschöpfend Auskunft gegeben. Ob Lambert dessen To-do-Liste kenne?
    Â»Nein.«
    Â»Es stehen drei Punkte darauf: Not smoke. Kiss June. Not kiss anybody else. «
    Â»Oh.«
    Â»Du sagst Oh, als würdest du sagen: Herr, ich habe gesündigt.«
    Â»Das stimmt nicht. Ich meine: Das habe ich nicht so gesagt.«
    Â»Aber gesündigt hast du?«
    Â»Worauf wollen Sie hinaus, mein Gott?«
    Â»Was hat der damit zu tun?«
    Â»Gott?«
    Â»Genau der.«
    Â»Er … ich weiß nicht. Warum?«
    Â»Lebst du mit Gott?«
    Lambert dachte nach. Es schien dem Fahrer auf einmal ernst zu sein. Dann holte er Luft und sagte schnell, um nicht wieder unterbrochen zu werden, und auch, damit sie bei einem etwas weniger heiklen Thema landeten: »Mein Vater ist vor wenigen Tagen gestorben. Ich habe die ganze Zeit nicht geweint, erst als wir in der Kirche saßen. Seitdem versuche ich mir einzureden, dass Gott einfach das Gegenteil des Todes ist. Klingt einfach, ist aber fast unvorstellbar.« Eine Sekunde lang schwiegen sie tatsächlich beide. Dann s prach Lambert langsam weiter: »Wenn man in unserer S prache das Wort Gott rückwärts liest, steht da Tod. Er ist das Gegenteil.«
    Der Fahrer wandte seinen Blick nicht von der Straße, als er antwortete: »Versuch nicht, mich zu verarschen, Lamborg. Ich verstehe genug von der Welt, um zu wissen, dass das nicht stimmt.«
    Â»Aber es könnte sein. Jedenfalls sollte es eine S prache geben, in der das so ist. Die ideale S prache.«
    Â»In Amerika heißt Gott von hinten Hund.«
    Â»Die armen Hunde.«
    Eine Stunde s päter hatten sie Saint Jérôme hinter sich gelassen, sie verließen die Transcanadienne und machten einen Bogen über die Dörfer. Die letzten Passagiere stiegen aus, Lambert führte die alte Dame die Stufen hinab. Auf der Straße angekommen, drehte sie sich um und tätschelte ihm wortlos den Arm. Lambert setzte sich in die letzte Reihe, um ein wenig zu schlafen, stattdessen aber saß er einfach da, den Kopf an die Scheibe gelehnt, und sah hinaus.
    Das Schwindelgefühl vom Morgen hatte sich noch immer nicht gelegt, und ihm war ein wenig übel, obwohl er seit gestern Abend nichts gegessen hatte und auch keinen Appetit ver s pürte. Er konnte nicht von sich behaupten, in guter Verfassung zu sein. Vor dem Fenster war der Himmel bis auf einzelne Flugzeuge leer. Wahrscheinlich schaute gerade in diesem Moment dort oben jemand herunter, wie Lambert selbst noch vor

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