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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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wollte das Gefährt davonfliegen und bekäme nur nicht genug Schwung, um sich mit seinem Gewicht in die Luft zu erheben.
    Niemand war zu sehen.
    Die Autos auf der Gegenfahrbahn hupten, weil der Bus beim Ausweichen ihre Seite blockierte. Der Busfahrer schimpfte wie wild, auf die Sonntagsfahrer, die Selbstmörder, die Jugend, die Pferdezüchter, die Frauen. Seine Hupe war lauter als die der anderen, deutlich lauter. Die Autos blendeten ihr Fernlicht auf, und der Busfahrer schaltete die Suchscheinwerfer an, um sie vor dem Weiterfahren zu warnen, ganz langsam schob der Bus sich weiter. Über den Lärm und das Chaos hinweg schrie Lambert den Fahrer an, er solle anhalten, sofort, jemand müsse helfen.
    Vielleicht hatte der Mann vergessen, dass jemand bei ihm war, jedenfalls ließ er die Hupe los, verstummte für einen Moment und lenkte vorsichtig zurück auf die rechte Fahrbahn. Dort bremste er, schaltete den Warnblinker ein und fing gleich wieder an zu schimpfen. Was ihm einfalle, er sei sein Angestellter, sein Hilfsangestellter, um genau zu sein. Wann sie anhielten, bestimme immer noch er selbst. Aber da war Lambert schon am Mittelausgang, er legte den Hebel für die Notentriegelung um, schob die Tür zur Seite und s prang hinaus, ins erstbeste Versteck.
    Wie still es hier draußen war. Die Autos hatten aufgehört zu hupen, in beide Richtungen staute sich der Verkehr, ganz langsam nur rollten die Wagen an ihnen vorüber, vom Widerschein des Warnblinkers beleuchtet.
    Lambert lag flach unter dem Bus, das Kinn auf den A s p halt gepresst, und sah direkt vor sich, wie der Busfahrer auf die Straße trat. Er war noch immer barfuß. Kurz blieb er stehen, dann ging er hinüber zu dem Wrack, besah es sich von allen Seiten, kam dann zurück und umkreiste langsam den Bus: »Lamb! Lambre, Lambertin! Wie heißt du noch mal, und wo steckst du, zum Teufel? Ich will meine verdammte Uniform zurück, du dreckiger Hund! Sind hier denn alle vom Erdboden verschluckt?« Mit voller Wucht trat er gegen einen Reifen. Lambert sah, wie er sich den Fuß hielt und ein paar Hüpfer machte, bevor er fluchend wieder einstieg. Mit einem Fauchen schloss sich die Tür hinter ihm, dann wurde der Warnblinker ausgeschaltet, und der Bus fuhr langsam an.
    Lambert drückte sich dichter auf den Boden, über ihm wurde es wieder hell, dann stand er auf und klopfte sich die Uniformhose sauber. Noch bevor der Fahrer ihn im Rück s piegel entdecken konnte, war er hinter dem Wrack im Straßengraben verschwunden. Einen kurzen Blick warf er ins Innere des zerstörten Wagens, aber es war kein Blut zu sehen.
    Beim ersten Anblick der Unfallstelle war ihm fast das Herz stehen geblieben, so sicher schien ihm, dass Fe tot sein müsste. Unter dem Bus liegend aber war ihm eingefallen, dass er ja nachschauen konnte, wo sie sich befand.
    Ganz langsam hatte sich dort unten im Schatten des Bodenblechs die Karte aufgebaut. Die Ränder des Nationalparks, die gelbe Linie der Transcanadienne, darüber der zackige Lauf der Rivière du Diable, das freie Feld dazwischen und mitten in diesem Niemandsland zwischen Straße und Fluss das vertraute rote Blinken. Dorthin musste er.

28
    Nach einer guten Stunde Fußmarsch hatte er sie eingeholt. Wie mühsam es war, in Strandsandalen zu wandern. Lambert schlüpfte hinaus und wischte sich ein paar Steinchen von den Füßen. Dann zog er die Uniformjacke aus. Obwohl er gleichmäßig gegangen war, musste er erst zu Atem kommen. Er krempelte die Hemdsärmel hoch und rieb sich das Gesicht. Wie er zitterte. Noch immer schlug ihm das Herz bis zum Hals.
    Sie war dort drüben, hinter den Bäumen, auf der anderen Seite des Flusses, noch konnte sie ihn nicht sehen. Er hielt sich im Schutz einiger junger Buchen mit grellgrünen Trieben, daneben standen drei dürre Birken und eine einzelne Fichte. Über ihm ein strahlender Himmel, jemand hatte die Wolken in kleine Stücke zerrissen. Es musste längst Mittag sein.
    Der Fluss war flach, ein schnell schäumender Lauf, in dem einzelne Granitblöcke lagen, von Wasser und Zeit geschliffen. Sie lagerte am Ufer, die Pferde standen bis zu den Knöcheln im Wasser und tranken. Von Zeit zu Zeit schüttelten sie ihre borstigen Mähnen, als wollten sie etwas abwerfen, das sich nicht abwerfen ließ. Fe stand bei den Pferden und wusch ihnen offenbar die Wunden aus. Sie selbst hatte eine Verletzung an der Stirn.

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