Was wir Liebe nennen
Kurzem aus einem Flugzeug hinuntergeschaut hatte. Wenn die Linien sich kreuzen, sind es StraÃen, hatte er gedacht. Aber was, wenn sie sich treffen und zusammenbleiben? Könnten es dann nicht ebenso gut Flüsse sein? Oder die Linien einer riesigen Hand?
Sie kamen nach Saint Hippolyte, einer Ortschaft aus wenigen Häusern und einem kleinen a s phaltierten Rondell, das mit Tankstelle und Blumenladen offenbar den Marktplatz des Dorfes bildete. Dort hielten sie. Zwischen Zapfsäule und Blumenladen saà ein alter Mann in der Sonne und steckte einen Kranz aus weiÃen Margeriten. Der Fahrer lieà die Türen auffahren, erhob sich seufzend und stieg aus, Lambert sah ihn zu einem Toilettengebäude gehen. Im schmalen Streifen des Fensters hinter seinem Sitz leuchtete ein Schild, auf dem Lambert die Buchstaben FLOW lesen konnte. Nach einer Weile kam der Fahrer zurück, mit dem gleichen Seufzen nahm er wieder Platz und fuhr langsam an. Lambert las LOWE und gleich darauf nur noch OWER . Niemand war zugestiegen.
Lambert fühlte sich verhext. Hatte sie ihn verzaubert, hatte er in ihr seine Meisterin gefunden? Jetzt ging es darum, einen Gegenzauber zu finden. Zunächst musste er herausfinden, was genau sie ihm weggehext hatte. Den Hunger? Das käme hin. Oder irgendeinen Herzmuskel â seit gestern hörten die Stiche nicht auf, immer wieder ertappte er sich dabei, wie er eine Hand auf die Brust presste, um zu schauen, ob es noch schlug. Die Leute würden ihn noch für Napoleon halten. Wahrscheinlich war es die Seele, die sie ihm geklaut hatte, und nur deshalb irrte er hier so orientierungslos herum. Was auch immer es war: Er wollte es zurück.
Erst jetzt fiel Lambert auf, dass Fe ein Geschenk ver s prochen, ihm dann aber nichts gegeben hatte. Hatte sie es vergessen, oder war alles, was dann kam, ihr Geschenk gewesen?
Graue Ahornwälder, Wildzäune, einzelne Briefkästen. Allmählich wuchsen die Hügel höher. Sie passierten die nächste Kirche, das nächste Schild: Bete, bis etwas passiert.
27
Von Zeit zu Zeit überprüfte Lambert Fes Position. Der blinkende Punkt hatte sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit nach Nordwesten bewegt, zwischen Lac Brûlé und Lac Manitou hindurch in Richtung Saint Jovite, nicht weit voraus. Auch Puls und Unterhauttemperatur waren stabil. Es schien ihnen gut zu gehen.
Auf einmal aber blieb der Punkt auf der Stelle stehen. Anfangs hielt Lambert es noch für einen Ãbertragungsfehler, aber nun stiegen auch die Werte für die Herzfrequenz. Lambert merkte, wie seine Handflächen feucht wurden.
Während die Anzeige in die Höhe s prang â 40, 70, 80 â, blinkte der rote Punkt in aller Ruhe weiter. Unbeirrt von Lamberts Sorgen verharrte er in seinem eigenen Rhythmus und zeigte einfach an, woher die Signale kamen: vom Ortsausgang von Saint Faustin-Lac-Carré. Es blinkte, als wäre ein kleines rot pulsierendes Herz in die Landschaft gefallen. Lambert wünschte sich, dieses Herz zu sein. Er wollte das andere, aufgeregte Herz beruhigen, das so stürmisch schlug. Tränen schossen ihm in die Augen, aus Rührung über seinen eigenen Wunsch. Er zog die Nase hoch. Hinter dem Schleier blinkte es noch immer verschwommen rot. Ein Irrlicht, das nicht aufhörte, ihn zu locken.
Der Bus war inzwischen zurück auf der Transcanadienne, sie würden die Stelle bald erreichen. Von vorne hörte Lambert den Busfahrer vor sich hin reden, aber ihm stand der Sinn nicht nach Gesellschaft. Wenn er die Augen schloss, sah er Fe vor sich, wie sie in ihrem Wagen saÃ, und die Pferde im Anhänger s pielten verrückt, aus welchem Grund auch immer. Im Geiste umgab er sie mit einem Ring aus Zauberern, all die Kollegen, die er gerade getroffen hatte, bildeten einen Kreis um sie, der sie beschützen sollte. Er sah Andrea in ihrem Wohnzimmer auf und ab gehen, er sah seinen Chef, der auf ihn wartete, er sah den tätowierten Cowboy seinem Hut hinterherjagen, und er sah seinen Vater, wie er dalag, mit geschlossenen Lidern, und die Luft anhielt.
Lambert hörte den Fahrer fluchen und schlug die Augen auf. Sie scherten aus, Lambert s prang auf und stürzte zum Fenster. Im Schritttempo fuhren sie an der Unfallstelle vorbei.
Der Anhänger war umgestürzt, das Autowrack lag im StraÃengraben, seltsam verzogen. Geborstenes Glas, eine Ãl s pur, die Motorhaube war aufge s prungen, auch die Türen standen offen, als
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