Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
Vom Netzwerk:
ungeborenes Kind.
    Er setzte sich auf. Sein Herz schlug wild, dazu ein Schwindelgefühl, das erst verschwand, als er sich zwang, ruhiger zu atmen. Nirgendwo eine S p ur von Fe, sie saß weder am Schreibtisch noch in dem kleinen Sessel und war auch nicht im Bad. Lambert hockte sich auf die Toilette, nackt, den Kopf auf die Hände gestützt, und versuchte nachzudenken. Ob sie schon beim Frühstück war? Bei den Pferden? Er rieb sich das Gesicht mit Wasser ab, so fest er konnte. Dann ging er zurück, um sich anzuziehen.
    Aber da war nichts zum Anziehen. Weder auf dem Schreibtischstuhl, wo er seine Sachen hingelegt hatte, noch im Schrank oder in den Schubladen und nicht einmal unter dem Bett. Es war alles fort. Und nicht nur sein Anzug war verschwunden, auch die Schuhe und seine Tasche waren nirgendwo zu sehen. Nicht einmal eine Unterhose hatte sie ihm gelassen.
    Lambert setzte sich aufs Bett und wartete einen Moment, ob sich die ganze Sache womöglich doch noch als Irrtum erweisen würde, wenn er dem Tag nur etwas Zeit gab, den Fehler zu korrigieren. Zeit half oft, wenn man nicht mehr weiterwusste. Er öffnete das Fenster, aber auch draußen war nichts zu sehen. Und die Hoffnung, dass seine Sachen dort herumfliegen würden, war wohl ohnehin vermessen.
    Er war verloren, das hatte er im ersten Moment schon begriffen. Es war nicht nur die Scham, nackt auf die Straße zu müssen, er konnte auch nirgendwohin, ohne Geld, ohne Pass, ohne Rückflugticket. Vor allem aber ohne eine Idee, wo er all das wiederfinden könnte. Er würde für den hoffentlich kurzen Rest seines Lebens in diesem Zimmer bleiben müssen.
    Im Badezimmer stieß er doch noch auf etwas: Fe hatte ihr kleines Gerät aufladen wollen und im S piegelschrank den Netzanschluss für Elektrorasierer gefunden. Lambert zog den Stecker, schaltete das Gerät ein und sah zu, wie das Di s play allmählich zu leuchten begann.
    Die Anzeige meldete 32/s und 37,9° C. Kein Grund zur Besorgnis, wenn er Fes Ausführungen richtig verstanden hatte. Solange man davon ausging, dass Fe den Chip wirklich dem Pferd eingesetzt hatte und nicht sich selbst, war sogar der Puls in Ordnung. Nach und nach baute sich eine Landkarte auf. In der Nähe von Mirabel blinkte ein roter Punkt. Dort also war sie.
    Es half nichts, er musste hin. Nicht wegen seiner Kleidung, nicht wegen der Papiere. Sondern um zu kapieren, was das mit ihr war. Um sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Und um zu entscheiden, was das alles für ihn bedeutete.
    Er hätte die Tagesdecke nehmen können, aber das Fischmuster war wohl doch zu übertrieben. Also kletterte er aufs Fensterbrett und zerrte mühsam die Gardine von der Vorhangstange. Es fehlte nicht viel und er hätte sich dabei aus dem Fenster gestürzt.
    Mit etwas Fantasie konnte man sich vorstellen, dass der Mann, der da barfuß und in eine Toga aus bunt bedruckter Baumwolle gehüllt über den Flur eines Montrealer Hotels schlich, ein Römer war, oder zumindest jemand auf dem Weg zu einem Kostümfest »Panem et circenses«. Ein wenig Panem wäre Lambert mittlerweile durchaus recht gewesen. Circenses hatte er genug.
    Auch wenn die Hotelrechnung von der Fluggesellschaft übernommen wurde, wäre es Lambert unangenehm gewesen, von der Asiatin an der Rezeption entdeckt zu werden, nach allem, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden miteinander erlebt hatten. Also bückte er sich und schlich auf allen vieren direkt vor ihrem Tresen entlang. Als er direkt unter ihr war, holte er kurz Luft, streckte die Hand mit dem goldenen Schlüssel aus und schob ihn vorsichtig auf den Tresen. Dann rannte er einfach los, durch die Tür und hinaus in die morgendliche Luft, der Vorhangstoff flatterte hinter ihm her. Lambert konnte nur hoffen, dass sie wieder Nachtschicht gehabt hatte, mit etwas Glück hielt sie ihn für eine Täuschung ihrer erschöpften Sinne.

26
    Noch ganz außer Atem stützte er sich an der Werbetafel eines Reisebüros ab. Zu seinem Leidwesen ließ sich das Versteck s p iel auf der Straße nicht fortsetzen. Es waren zu viele Passanten unterwegs. Also setzte Lambert einen mürrischen Gesichtsausdruck auf und blickte in die Ferne. Er konnte es nicht sehen, aber er s p ürte, wie die Menschen sich umschauten, sobald sie an ihm vorüber waren.
    Auf dem Bürgersteig saß ein Bettler mit seinem Hund und fragte nach Geld. Der Hund hob den

Weitere Kostenlose Bücher