Was wir Liebe nennen
brauchte einen Moment, bis ihm dämmerte, dass sie die ganze Zeit neben ihm gestanden hatte, dicht untergehakt, er war wohl einfach mit den Gedanken nicht richtig da gewesen.
Dann stand er auf und klopfte sich den Sand von der Hose. Es führte kein Weg daran vorbei: Er wollte zurück.
Man konnte nicht auf jedes Pferd auf s pringen, das vorbeigeritten kam. Er konnte nicht bei dieser Frau bleiben, nur weil sie neu war. Sie hatten sich durch einen Zufall kennengelernt, na und? Warum sollte das ein Fingerzeig Gottes sein? SchlieÃlich hatte er Andrea auch durch einen Zufall getroffen: ein Regenguss, eine Abtei. Da hätte er ebenso gut bei Viola bleiben können, immerhin war er mit ihr zusammen abgestürzt. Oder bei jeder anderen Frau, die ihm je begegnet war. Er wollte sich nicht auswildern, er glaubte nicht an die Folklore der Freiheit. Er wollte zurück, ohne sagen zu können, ob er zu Andrea wollte oder zu sich selbst, und ob das überhaupt ein Unterschied war. Lambert schöpfte einen Schluck Wasser, dann machte er sich auf den Weg um den See.
38
Erst war der Puls in die Höhe gegangen, bis auf hundertsechzig, hundertachtzig Schläge in der Minute, und dann mit einem Mal abgefallen, bis jedes Anzeichen einer Herztätigkeit erlosch. Das Blinken dagegen war seit dem letzten Nachschauen ortsfest geblieben: in einer Bucht am Nordende des Sees. Nun stiegen auf einmal die Werte der Unterhauttemperatur. Irgendetwas stimmte da drüben ganz und gar nicht.
Den schmalen Streifen Sandstrand hatte Lambert hinter sich gelassen. Jetzt kämpfte er sich durch den dichten Bewuchs am Ufer wie eine Kopflaus durch eine Hochsteckfrisur. Die Loipe war längst abgebogen in ein anderes Tal. Eng gedrängt standen hier die glatten grauen Stämme, zwischen denen überall neue S prösslinge darum stritten, wer von ihnen es einmal nach oben schaffen würde. Und in jeder verbleibenden Lücke wucherte ein zähes, dorniges Kraut, das Lambert die nackten Knöchel zerschnitt. Er war nur froh, dass seine Uniformhose ihn vor Schlimmerem bewahrte. Es war ein Wunder, dass es Fe und dem anderen gelungen war, hier hindurchzugelangen. Die Pferde mussten vollkommen erschöpft sein.
An dieses Stück des Ufers war die Sonne noch nicht gekommen, aber durch die Zweige fiel das Licht eines klaren Himmels. Es würde ein schöner Tag werden.
Ab und an warf Lambert einen Blick auf die Anzeige.
52° C
78° C
Gesund war das nicht.
Der Puls zeigte jetzt durchgehend null, Lambert rüttelte an dem Gerät, aber wahrscheinlich hätte man eher an dem Gegenstück auf der anderen Seite rütteln müssen.
96° C
121° C
164° C
Lambert lehnte sich an einen Baumstamm, um zu Atem zu kommen und in Ruhe zu überlegen, was die Zahlen bedeuten mochten. Er hatte das seltsame Gefühl, sie erzählten ihm eine Geschichte, aber es war zu laut in seinem Kopf, um die Geschichte zu verstehen.
Lambert verstaute das Gerät in der Innentasche seiner Uniformjacke, vielleicht war es besser, eine Zeit lang nicht mehr darauf zu schauen.
Die Wunden an seinen FüÃen schmerzten so sehr, dass Lambert nicht gleich bemerkte, als er eine Sandale verlor. Er kehrte um und suchte humpelnd und fluchend danach, irgendein Dornenzweig musste sie ihm vom Fuà gestreift haben. Dann sah er ein, dass die Sandale überall hätte liegen können, was in diesem Fall gleichbedeutend mit nirgendwo war. Also lief er weiter und lieà auch das Humpeln bald sein, es verbesserte nichts.
Bald lichtete sich der Wald, und auch das Land öffnete sich. Das grüngrau geschachtelte Durcheinander von Bergen und Tälern, Hängen, Graten und Stürzen, als hätte jemand seine Skizze einer Landschaft verworfen und zusammengeknüllt liegen gelassen.
Hinter sich in der Ferne erkannte Lambert die Bergstation, wo sie am Vorabend gewesen waren. Im Gegenlicht schimmerten vor einer schmalen Reihe Wolken die Kabel des Skilifts.
39
Fe erwachte vom Brandgeruch.
Es roch gut. In ihrem Schlafsack war es kalt, und noch immer hatte sie Hunger. Zu ihrer Verblüffung wusste sie gleich, wo sie sich befand. Tatsächlich hatte ihr knurrender Magen sie vor einer Weile schon einmal geweckt, im ersten, nachtblauen Licht. Der kalte Himmel und der kalte See hatten einander ge s piegelt, ohne dass sich sagen lieÃ, wer zuerst da gewesen war. Die fast unbeweglich grasenden Pferde, der dumpfe Pulsschlag in ihren Ohren und das
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