Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
nach der blauen Figur. Was sich bei diesen Kindern in den letzten sechs Monaten verändert hatte, welche neuen Erfahrungen in ihrer Lebenswelt dazu führten, dass sie sich nun mit dem »Unterdrücker« identifizierten, ist nicht schwer zu erraten.
Kein Kind kann die ersten sechs Monate seines Lebens überleben, wenn es nicht von irgendjemand umsorgt, geschützt, genährt und unterstützt wird. Das ist die primäre Erfahrung, die jedes Kind am Anfang seines Lebens macht.
Anschließend nimmt es zunehmend mehr davon wahr, wie es innerhalb seiner jeweiligen Lebenswelt zugeht, wie die Familienmitglieder miteinander und mit ihm umgehen, ob es dort, innerhalb des jeweiligen Familiensystems jemanden gibt, der sich sehr erfolgreich auf Kosten anderer durchsetzt. Und für erfolgreiche Überlebensstrategien haben eben auch kleine Kinder schon einen sehr feinen Blick. Dass sie sich mit denjenigen identifizieren und die Strategien derjenigen übernehmen, die aus ihrer Perspektive besonders erfolgreich sind, ist nur allzu verständlich. Aber angeboren sind diese Verhaltensweisen und die diesen Verhaltensweisen zugrunde liegenden Haltungen nicht.
Kleine Kinder orientieren sich an Vorbildern. Streckt man einem Baby beispielsweise die Zunge heraus, so macht es das nach. Nicht immer, sondern nur dann, wenn das Baby darauf Lust hat. Wenn ihm also nichts fehlt, es sich wohl fühlt, wach genug ist und die Szene durch nichts gestört wird. Verantwortlich dafür, dass Kinder das Verhalten von anderen Menschen imitieren, ist das sogenannte Spiegelneuronensystem im Gehirn. Angeblich haben das nur Affen und Menschen. Aber mein Freund hat einen Papagei, der spricht ihm alles nach, und ein anderer Freund hat einen Hund, der macht ihm alles nach, der würde sogar sprechen, wenn er könnte. Spiegelneuronen sind also offenbar recht weit im Tierreich verbreitet, und ohne die Fähigkeit, andere zu imitieren, könnte man auch von anderen nichts lernen. Das gilt wohl für alle in sozialen Gemeinschaften lebenden Tiere und für uns Menschen ganz besonders.
Wenn man von anderen nichts lernen kann, dann muss man in jeder Generation wieder von vorn anfangen. Dann bekommt man ein Hirn, in dem die Anzahl und die Art der Vernetzung der Nervenzellen durch die Expression der genetischen Anlagen gesteuert werden. So ein Hirn haben die Fadenwürmer, die Schnecken und die Insekten. Aber bei den Wirbeltieren, und hier dann endgültig bei den Säugetieren ist Schluss damit. Die heißen ja Säugetiere, weil sie nicht ohne eine sie nährende und mit allem, was sie brauchen, versorgende Mutter aufwachsen können. Und wenn ein Säugetier so unreif auf die Welt kommt wie wir Menschen und so lange braucht, bis es sich dort allein zurechtfindet, so ist diese Versorgung und Begleitung von keiner Mutter mehr allein zu schaffen. Da wird auch noch ein Vater und eine ganze Sippe gebraucht, am besten ein ganzes Dorf.
So ein kleiner Mensch wird ja nicht dadurch ein überlebensfähiger Erwachsener, dass er gesäugt und gefüttert wird. Er braucht auch all die geistige Nahrung, muss mit all dem Wissen und Können versorgt werden, über das die Mitglieder seiner Gemeinschaft verfügen und das nun auch sein Überleben und seine Reproduktionsfähigkeit in dieser Gesellschaft sichert. Deshalb saugen Kinder nicht nur an der Mutterbrust, sondern ebenso intensiv am Erfahrungsschatz der jeweiligen Gemeinschaft, in die sie hineinwachsen. Milch saugen sie mit dem Mund, Erfahrungen saugen sie mit Hilfe ihrer Wahrnehmungssysteme, indem sie auf all das achten, genau hinschauen, hinhören, hinspüren, also alles aufsaugen, was die anderen von sich geben. Anschließend versuchen sie dann aus all dem Aufgenommenen etwas Eigenes, für sie Brauchbares zu machen.
Dieser geistige Verdauungsprozess findet in einem in ihrem Gehirn bereits bei Geburt angelegten Verdauungssystem statt. Und ein wichtiger Bestandteil davon ist das Spiegelneuronensystem. Wenn das Baby also zuschaut, wie jemand vor ihm seine Zunge herausstreckt oder sich auf Kosten anderer durchsetzt, wird im Gehirn ein Netzwerk aktiviert, das diese Wahrnehmung gewissermaßen als inneres Bild, als neuronales Aktivierungsmuster repräsentiert. Dieses Aktivierungsmuster wird anschließend genutzt, um die gleiche Verhaltensweise nun aus sich selbst heraus zu steuern und hervorzubringen. Dann streckt das Baby seine Zunge auch heraus. Aber eben nicht immer, sondern nur dann, wenn der Aufbau dieser Aktivierungsmuster nicht gestört wird. Und
Weitere Kostenlose Bücher