Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
darauf haben, gemeinsam mit anderen über sich hinauszuwachsen.
Clevere Rattenfänger
Der Rattenfänger von Hameln wusste offenbar, dass es in dieser Stadt sehr viele Kinder gab, die nach etwas suchten, die eine große Sehnsucht nach etwas hatten, was damals für sie in Hameln nicht zu finden war. Deshalb sind sie ihm gefolgt. »Dem bezaubernden Klang seiner Flöte«, sagt die Legende. »Seinem Versprechen, die Welt durch einen Kreuzzug der Kinder zu erlösen«, sagt die Geschichtsforschung. Aber vielleicht folgten sie nur der von ihm verbreiteten Hoffnung, endlich das zu finden, was diese Kinder so sehr brauchten, was aber damals in Hameln offenbar für die meisten Kinder nicht zu finden war: Aufgaben, an denen sie wachsen konnten; und Gemeinschaften, denen sie sich zugehörig, mit denen sie sich verbunden fühlten. Das Gefühl, für irgendetwas wichtig zu sein, gebraucht zu werden. So zumindest ist das Rattenfängerphänomen aus der Perspektive der modernen Hirnforschung und Entwicklungspsychologie erklärbar.
Für nichts lassen sich Menschen, auch schon als kleine Kinder, mehr begeistern als für das, was wir Glück nennen. Glücklich sind Menschen immer dann, wenn sie Gelegenheit bekommen, ihre beiden Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Nähe einerseits und nach Wachstum, Autonomie und Freiheit andererseits stillen zu können. Wenn sie also in der Gemeinschaft mit anderen über sich hinauswachsen können. Wer das erleben darf, ist glücklich. Der ist dann auch von keinem Rattenfänger dieser Welt verführbar. Der läuft niemandem hinterher, der ihm irgendetwas verspricht. Als kleines Kind nicht und auch nicht als Erwachsener.
Gesetzt den Fall, Sie wären ein heute lebender Rattenfänger und Sie hätten ein besonderes Interesse daran, dass möglichst viele Kunden Ihrem Flötenspiel, also Ihren Ratschlägen, Ihren Angeboten und Ihren Vorführungen folgen. Wie müssten Sie vorgehen, was müssten Sie schaffen, um in diesem Bemühen möglichst erfolgreich zu sein? Ja, genau das. Möglichst viel Unzufriedenheit, Leid, Frust, Ärger, Wut, also möglichst viele unglückliche Leute müssten Sie erzeugen. Die würden dann bereitwillig all Ihren Angeboten, Ihren Versprechungen und Ihren Ratschlägen folgen, wenn die nur irgendwie, und auch nur für kurze Zeit, dazu beitragen, etwas glücklicher, etwas zufriedener, etwas froher zu sein. Und was müssten Sie verknappen, damit die Leute möglichst unglücklich und damit besonders gute Kunden und Konsumenten Ihrer Angebote werden? Sie müssten die Zeit und die Gelegenheit verknappen, die ihnen zum gemeinsam über sich Hinauswachsen zur Verfügung steht.
Sie müssten die Beziehungen der Menschen so organisieren, dass immer mehr von ihnen die Erfahrung machen, dass es für sie vorteilhafter ist, wenn sie gegeneinander statt miteinander arbeiten, und Sie müssten die Lebenswelt der Menschen so gestalten, dass sich der Einzelne wie ein winziges Zahnrad in einem mächtigen Uhrwerk erlebt und irgendwann die Hoffnung begräbt, in dieser komplett durchorganisierten Lebenswelt jemals etwas selbst gestalten und damit autonom und frei werden zu können. Wenn Sie das so machten, dann wären Sie ein moderner Rattenfänger und die Menschen würden sich für Ihre Tipps und Angebote immer wieder neu begeistern.
Wie wir unsere Begeisterungsfähigkeit verlieren
Und jetzt können wir uns fragen, wie es kommt, dass wir uns für manches begeistern und für anderes nicht und weshalb uns diese anfängliche Begeisterung, mit der wir uns als kleine Entdecker und Gestalter unserer Lebenswelt auf den Weg gemacht haben, beim Erwachsen- und Älterwerden zunehmend abhanden kommt. Wie oft erleben Sie heute noch diesen Sturm der Begeisterung? Einmal pro Tag, einmal pro Woche? Weshalb geht die Gießkanne mit dem besten Dünger für Wachstums- und Reorganisationsprozesse in unserem Hirn nur noch so selten an? Statt immer mehr wird uns immer weniger wichtig, je älter wir werden. Aber warum ist das so?
Für ein kleines Kind ist noch fast alles bedeutsam, was es erlebt, erfährt und macht. Je besser es sich dann später in seiner jeweiligen Lebenswelt einzurichten und zurechtzufinden gelernt hat, desto unbedeutender wird dann allerdings alles andere, was es in dieser Welt sonst noch zu entdecken und zu gestalten gäbe. Indem wir älter werden, Erfahrungen sammeln und unsere Lebenswelt nach unseren Vorstellungen gestalten, laufen wir also zunehmend Gefahr, in eingefahrenen Routinen steckenzubleiben,
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