Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
auch nicht bei jedem, der ihm das Zungeherausstrecken vormacht.
Damit ein Baby, ein Kind, ein Jugendlicher oder ein Erwachsener das Verhalten eines anderen Menschen imitiert, damit also das Spiegelneuronensystem in seinem Hirn überhaupt aktiviert wird, muss die betreffende Person wichtig genug sein. Kinder machen nie allen Personen alles nach, sondern nur denen, die sie bewundern, die für sie besonders wichtig sind, mit denen sie sich emotional eng verbunden fühlen. Die sind ihre Vorbilder. Alle anderen können sich anstrengen soviel sie wollen, um einem Kind, einem Jugendlichen oder einem Erwachsenen etwas beizubringen. Nur wenn die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden, geht auch die Gießkanne der Begeisterung an. Und dann wird das, was das Vorbild macht, nicht nur einfach nachgemacht, sondern auch richtig fest in Form entsprechend gedüngter und gewachsener Verschaltungsmuster im Gehirn verankert.
Fragwürdige Vorbilder
Wenn es nur ein bestimmtes Bewegungs- oder Verhaltensmuster wäre, das wir von wichtigen Vorbildern übernehmen, bestünde wenig Grund zur Besorgnis. Dann würden manche Menschen die Teetasse eben anders zum Mund führen als andere oder anders laufen oder anders tanzen oder anders schwimmen, sich mit einer anderen Geste grüßen oder auf andere Weise einen gekochten Hummer essen.
Aber Kinder imitieren ja nicht nur solche einfachen motorischen Handlungsmuster und Verhaltensweisen von ihren Vorbildern. Sie übernehmen auch deren Haltungen und Denkweisen. Und da wird es eben leicht problematisch. Zum Beispiel wenn ein bewundertes Vorbild durch das, was er oder sie sagt, schreibt oder singt, durch sein Handeln oder durch sein Auftreten zum Ausdruck bringt, dass es völlig in Ordnung ist, andere Menschen abzuwerten oder gar zu beschämen, dass es im Leben darauf ankommt, sich auf Kosten anderer Macht und Einfluss zu verschaffen oder dass man im Leben durch Betrug und Lügen am weitesten kommt. Kinder und Jugendliche saugen solche Äußerungen zusammen mit den dazugehörigen Einstellungen und Haltungen und auch mit den diesen Auffassungen zugrundeliegenden Menschenbildern und Weltbildern begierig auf und machen sie sich mit großer Begeisterung um so effektiver und nachhaltiger zu eigen, je abhängiger sie von bestimmten Personen sind, die sie als Vorbilder bewundern, an denen sie sich orientieren, denen sie ihre Loyalität beweisen, von denen sie anerkannt werden wollen und die sie dann oft sogar noch zu übertreffen versuchen.
Niemand kommt als Menschenverächter, als Unterdrücker und Ausbeuter zur Welt, kein Mensch ist von Natur aus böse und gewalttätig. Um so werden zu können, braucht man Vorbilder, die schon so sind, und eine Lebenswelt, in der all jene, die so sind, sich damit Vorteile verschaffen können und womöglich sogar als besonders erfolgreich gelten.
Bedauernswerte Eselstreiber
Außer von solchen Vorbildern lassen sich Menschen auch von Personen beeinflussen, von denen sie überhaupt nicht begeistert sind, die aber eine sehr einfache und sehr alte Methode einsetzen, um diese Düngergießkanne im Hirn eines anderen Menschen in Gang zu setzen. Dazu braucht man nur demjenigen, bei dem das passieren soll, eine Belohnung zu versprechen. Das funktioniert allerdings nur so lange, wie diese Belohnung von dem betreffenden Empfänger als ein wirklich wichtiges und erstrebenswertes Gut betrachtet wird. Da dasselbe immer wieder ausgeteilte Zuckerbrot über kurz oder lang seinen Reiz verliert und immer fader schmeckt, braucht man, damit sich im Hirn dieses Belohnungsempfängers tatsächlich noch etwas tut, zunehmend attraktivere Belohnungen. So kommt der Belohnungsverteiler sehr leicht in die Situation eines Eselstreibers, der immer schmackhaftere Möhren vorhalten muss, damit sich sein Esel überhaupt noch von der Stelle bewegt. Wenn das nicht mehr klappt, greift er dann meist doch zur Peitsche und aktiviert die Gießkanne im Eselshirn durch die Begeisterung, die sich immer dann beim Esel einstellt, wenn es ihm wieder einmal gelungen ist, die angedrohten Schläge zu vermeiden. Egal, ob ihm das nun durch die vom Eselstreiber erwünschten Vorwärtsbewegungen gelungen ist oder durch geschicktes seitliches Ausweichen des Hinterteils. Bei diesem Verfahren wird der Esel immer besser beim Ergattern der Belohnungen und beim Vermeiden der Bestrafungen, und im Hirn wachsen ihm zunehmend effizientere Verschaltungen für beides. Langfristiger Verlierer dieses enorm anstrengenden
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