Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
erspüren, was auf sie zukommt. Und dafür, diese wichtigen Fühler freiwillig einzuziehen, lassen sich Schnecken eben nicht begeistern.
Insofern könnten wir uns die Schnecken zum Vorbild nehmen und in Zukunft sorgfältiger darauf achten, was in uns, mit uns und um uns herum geschieht. Dann könnten wir in Zukunft vielleicht auch schneller erkennen, wer uns mit welcher Absicht für was zu begeistern versucht, wie sehr andere versuchen, unsere Aufmerksamkeit einzufangen, und wie leichtfertig und unkritisch wir bestimmte Vorstellungen von anderen übernehmen und uns sogar zu eigen machen, die diese auch nur von anderen Menschen übernommen haben. Viele dieser Vorstellungen sind nicht nur falsch. Viel schlimmer ist, dass sie uns den Blick vernebeln. Und dann sieht man nicht mehr das, was ist, sondern allzu leicht nur noch das, was alle anderen auch so sehen.
Wir könnten unter »Arbeit« etwas anderes verstehen
So ist es uns beispielsweise mit unserer Vorstellung von dem ergangen, womit wir den größten Teil unseres Lebens verbringen. Wir nennen es Arbeit. Aber so, wie wir diesen Begriff heute verstehen, haben Menschen ihn nicht immer verstanden. Schon vor etwa 150 Jahren hat Friedrich Engels einen Aufsatz mit dem Titel »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« geschrieben.
Der Text erschien nur wenige Jahre, nachdem Charles Darwin in seinem Buch »The Origin of Species« die entscheidenden Grundlagen der sogenannten Evolutionstheorie herausgearbeitet und die Entstehung des Menschen als Ergebnis eines natürlichen Selektionsprozesses dargestellt hatte. Dass der Mensch vom Affen abstammen sollte, war zwar ein Affront für das Selbstverständnis der damaligen Zeitgenossen, aber das Selektionsprinzip der natürlichen Auslese, aus dem dann schnell das Schlagwort vom »Kampf ums Dasein« wurde, mit dem sich alle bestehenden Disparitäten des damaligen Gesellschaftssystems »natürlich« und damit »wissenschaftlich« begründen ließen, fand in den gebildeten und damit bessergestellten Schichten der Gesellschaft sehr rasch sehr viele begeisterte Anhänger.
Und wo einmal ein Markt entstanden ist, bestimmt die Nachfrage die Richtung der weiteren Produktentwicklung. Das gilt offenbar leider auch für wissenschaftliche Theorien und die zum Beweis dieser Theorien inaugurierten, durchgeführten und veröffentlichten Experimente. Darwin hatte für die von ihm beschriebene Variabilität körperlicher und psychischer Merkmale, an der die Selektion ansetzte, zunächst noch keine Erklärung. Er führte sie noch auf beides, auf angeborene Anlagen und erworbene Eigenschaften zurück. Erst später wurde die Bedeutung des genetischen Codes, der Mutation und Rekombination von DNA-Sequenzen für die Merkmalsausprägung herausgearbeitet. Seit dieser Zeit hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass das, was jedes Lebewesen, also auch der Mensch ist und kann, im Wesentlichen durch seine genetischen Anlagen festgelegt wird. Auf der Grundlage dieser »wissenschaftlichen Erkenntnis« verbreiteten sich sehr rasch höchst fragwürdige Vorstellungen über bessere und schlechtere Rassen, gefolgt von entsprechenden Versuchen, der natürlichen Selektion bei der Auslese »minderwertiger Erbträger« in Auschwitz und anderswo zu Hilfe zu kommen. Genetische Theorien dienten auch zur Diskriminierung des weiblichen Geschlechts und zur Sicherung des patriarchialen Herrschaftsanspruches. Und schließlich bilden diese Vorstellungen der genetischen Determiniertheit des Menschen bis heute die Grundlage für die »Differenzierung« von Kindern in höher und weniger Begabte und für die Rechtfertigung der Aufrechterhaltung eines dreigliedrigen Schulsystems in unserem Kulturkreis.
In diesem Malstrom opportuner genetisch-deterministischer Vorstellungen blieb für Engels’ Überlegungen über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen im letzten Jahrhundert nur wenig Raum für weitere Entfaltung. Doch der Grundsatz »die Revolution frisst ihre Kinder« gilt offenbar auch für die stringente Verfolgung »wissenschaftlicher« Denkmuster: So kam es, wie es kommen musste: Das am Ende und als Höhepunkt des genetischen Determinismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts abgeschlossene »Human Genome Project« erwies sich als Flop.
Die Ergebnisse waren ernüchternd: Das menschliche Genom enthält nicht viel mehr Gene als das der Würmer. 99,5 % unseres Erbgutes sind identisch mit dem unserer nächsten äffischen Verwandten, und seit es unsere
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