Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
plastisches, in seiner Strukturierung so maßgeblich durch eigene Erfahrungen bei der Lösung von Problemen und der Bewältigung von Herausforderungen geprägtes Organ ist, fällt die Antwort leicht: Diejenigen Menschen, die die meisten Probleme dabei haben, sich erst noch in der Welt zurechtzufinden, müssten zwangsläufig auch diejenigen sein, die am härtesten arbeiten. Das sind aber genau diejenigen, denen wir Erwachsene das Arbeiten am wenigsten zutrauen und von denen wir glauben, sie erst noch zu dem, was wir unter Arbeit verstehen, erziehen zu müssen: unsere Kinder.
Und diejenige Tätigkeit, die für diese Schwerstarbeiter besonders geeignet ist und auch besonders gern ausgeführt wird, um ihre Potentiale zu entfalten, sich selbst zu erproben und weiterzuentwickeln, ist nicht die schulische Ausbildung, in die wir sie zur Vorbereitung auf das »Berufsleben« – also auf das, was wir unter »Arbeit« verstehen – schicken. Diese für Kinder so wichtige, hirngerechte und sinnvolle Arbeit findet genau dort statt, wo wir sie am wenigsten vermuten: im Spiel. Dort, im spielerischen Umgang mit den Problemen, die wir Erwachsene unseren Kindern gewollt oder ungewollt bereiten, findet für Kinder die Schule fürs Leben statt. Dort üben sie sich ein, dort schaffen sie sich ihre Übungsplätze, dort machen sie ihre wichtigsten Erfahrungen, dort legen sie die Latte der Herausforderungen immer genau so hoch, dass sie sie auch mit Lust – also mit der durch eine eigene Leistung ausgelösten Begeisterung – zu überspringen imstande sind. Dort, in ihren eigenen, von uns nicht überwachten und kontrollierten Spielen bereiten sie sich auf ihr späteres Leben in unserer Gemeinschaft vor. Dort finden sie immer neue Herausforderungen und Aufgaben, an denen sie wachsen, über sich hinauswachsen können. Und dort, in ihren gemeinsamen Spielen finden sie auch das, was sie ebenso dringend für ihre Weiterentwicklung und die Entfaltung ihrer Potentiale brauchen wie ständig neue, immer größer werdende Herausforderungen. Dort finden sie andere Kinder, mit denen sie sich verbunden, bei denen sie sich geborgen und zugehörig fühlen, mit denen sie Konflikte zu lösen lernen und mit denen sie gemeinsam an Aufgaben arbeiten und Werke schaffen, die größer sind als das, was jeder und jede für sich allein zu bewältigen imstande wäre.
Und wenn wir uns als Erwachsene bisweilen aufregen über das, was Kinder sich in ihren Spielen erarbeiten, wenn wir sie dabei streitend, ballernd, keifend, destruktiv, narzisstisch, desinteressiert, gelangweilt oder hyperaktiv erleben, so vergessen wir dabei allzu leicht, dass sie genau auf diese Weise dabei sind, sich in harter Arbeit eben genau all das anzueignen, was wir ihnen als unsere Lösungen, sich im Leben zurechtzufinden, vorleben.
Das menschliche Gehirn ist eben nicht zum Auswendiglernen von Sachverhalten, sondern für das Lösen von Problemen optimiert. Deshalb brauchen schon Kinder möglichst viele und immer wieder neue Herausforderungen, die es zu meistern gilt, an denen sie als kleine Menschen besonders schnell, wenn sie älter werden etwas langsamer wachsen, über sich hinauswachsen können. Das ist Arbeit. Und je mehr man davon hat, umso besser. Aber zu dieser Arbeit kann man niemanden zwingen. Dazu muss man Kinder ebenso wie Erwachsene einladen, dazu muss man ihnen Räume und Gelegenheiten bieten, sich selbst einzubringen, auszuprobieren, Verantwortung zu übernehmen, den Nutzen von Disziplin und den Genuss des gemeinsamen Gestaltens zu erfahren. Solche gemeinsamen Erfahrungen können Menschen innerhalb einer Gemeinschaft aber nur machen, wenn sie nicht voneinander abgegrenzt und gezwungen werden, in ihren jeweils voneinander getrennten Lebensräumen im eigenen Saft zu schmoren, die Kleinen im Kindergarten, die Größeren in der Schule, die Erwachsenen im Betrieb und die Alten im Seniorenheim. Kein Wunder, dass die aus diesen getrennten Erfahrungen heraus geformten Haltungen von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren so unterschiedlich werden, dass sie kaum noch zusammenpassen.
Wir könnten unter »Erziehung« und »Bildung«
etwas anderes verstehen
Niemand käme auf die Idee, kleine Kätzchen auf das Mäusefangen vorzubereiten, indem durch Lernprogramme zunächst das Stillsitzen und Beobachten, später das Zupacken und Festhalten und schließlich das Fressen einer Maus geübt wird. All das lernen die kleinen Kätzchen von allein, allerdings nur dann, wenn man sie
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