Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
nicht laufend dabei stört oder ihnen die zum Erlernen und Einüben dieser Fähigkeiten erforderlichen Spielräume nimmt. Vor allem aber müssten die Kätzchen Gelegenheit bekommen, einer anderen Katze zuzuschauen, die das Mäusefangen bereits beherrscht.
Genau so geht es auch allen Säugetieren, die ein Gehirn besitzen, dessen endgültige, für die Bewältigung der jeweiligen artspezifischen Leistungen erforderliche innere Struktur erst während der Kindheit nutzungsabhängig herausgeformt wird. Menschenkinder müssen sogar fast alles, worauf es in ihrem späteren Leben ankommt, durch eigene Erfahrungen lernen. Diese Erfahrungen werden dann in ihrem Hirn in Form bestimmter Verschaltungsmuster fest verankert. Eine neue Erfahrung macht man auch schon als Kind am ehesten dann, wenn man ein Problem hat und dann plötzlich merkt oder von anderen abschauen kann, wie es sich lösen lässt. So wird Selbstvertrauen und gleichzeitig auch das Vertrauen, also die Achtung für und die Bindung an andere gefestigt und der Mut zur Bewältigung neuer, noch etwas schwierigerer Herausforderungen gestärkt. All das gelingt jedoch nur dann, wenn die Probleme nicht zu klein – also langweilig und uninteressant – oder aber nicht zu groß – also überfordernd und unbewältigbar – sind. Im ersteren Fall bleibt dem Kind als Erfahrung nur, dass »nichts Spaß macht«. Allzu rasch verlieren solche Kinder entweder ihre Neugier und ihre Begeisterungsfähigkeit oder sie wenden sich – wenn sie sich beides nicht nehmen lassen wollen – anderen Dingen zu. Sie »stören« und machen »Blödsinn«. Im zweiten Fall, wenn Probleme, Anforderungen und Erwartungen die Fähigkeiten der Kinder übersteigen, bekommen sie Angst. Diese Angst führt im Gehirn zu einer Reaktionskette, die das Erlernen von Neuem verhindert, bereits Erlerntes destabilisiert und das Kind auf sehr früh entwickelte und daher recht einfache Verhaltensstrategien zurückwirft. Was für ein Kind entweder zu wenig Herausforderung oder übermäßige Belastung bedeutet, kann niemand anderes entscheiden als das Kind selbst, bisweilen vielleicht auch eine sehr einfühlsame, dem Kind sehr nahestehende, mit ihm eng vertraute Bezugsperson. Alle anderen haben einfach keine Ahnung von dem, was in einem Kind angesichts einer bestimmten Situation vorgeht. Allzu leicht erscheint dann das, was diese Menschen von dem Kind erwarten oder ihm abverlangen, dem Kind selbst als entweder zu wenig oder eben zu viel. Das ist das Problem jeder »Frühförderung«, die wie ein Rasenmäher über die individuellen Besonderheiten und bisherigen Erfahrungshorizonte von Kindern hinweggezogen wird. »Das Gras wächst nicht höher, wenn man es immer wieder mäht«, würden die Indianer sagen, wenn sie uns beim Rasenmähen beobachten könnten.
Wenn das Kind selbst die einzige Person ist, die wirklich genau beurteilen kann, welche Aufgaben und Probleme ihm zu einfach und welche ihm zu kompliziert erscheinen, so ergibt sich daraus, dass man die Weiterentwicklung eines Kindes nur fördern kann, indem man einen Raum schafft, in dem es vielfältige interessante Angebote gibt, und das Kind selbst entscheiden lässt, welches dieser Angebote es aufgreifen will. Am besten gelingt das – wie bei den kleinen Kätzchen – im Spiel. Deshalb brauchen Kinder genügend Raum und Zeit zum Spielen. Kinder, denen solche Freiräume geboten werden, lernen alles, was es dort zu lernen gibt.
Wer erreichen möchte, dass Kinder in diesen Freiräumen auch genau die Erfahrungen machen, auf die es im Verlauf ihres weiteren Lebens so besonders ankommt, müsste versuchen, das Interesse des Kindes auf die spielerische Entdeckung und Erprobung eben dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten zu lenken. Das einfachste Verfahren, um das zu erreichen, besteht darin, den Funken der eigenen Begeisterung über das, was man selbst für wichtig hält, auf das Kind überspringen zu lassen. Aber das allein reicht noch nicht, denn es gibt noch eine ganze Reihe Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Kinder außerdem brauchen, um sich später im Leben zurechtzufinden. Wenn der Funke der Begeisterung der Kinder auch auf diese, ihnen noch fremden Bereiche ausgedehnt werden soll, brauchen diese Kinder Anregungen von solchen Menschen, die über mehr Lebenserfahrung verfügen als sie selbst. Kinder brauchen also erwachsene Vorbilder, an deren Interessen, Fähigkeiten, Kompetenzen und Haltungen sie sich orientieren können. Das müssten Vorbilder sein, die sie
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