Was wir sind und was wir sein könnten
Spazierengehen oder unter der Dusche. Kreativität, so scheint es, ist eine Leistung, die nicht dadurch erreicht werden kann, dass man sein Denkorgan besonders anstrengt, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Vielmehr kommen uns die wirklich kreativen Einfälle wohl eher ausgerechnet dann, wenn es uns gelingt, unser Gehirn ohne Druck und ohne gezielte Anstrengung zu benutzen. In gewisser Weise geht es uns dabei offenbar ähnlich wie den besten Sängern unter den Singvögeln, deren Gesangsleistungen Konrad Lorenz so treffend beschrieben hat: »Wir wissen wohl, dass dem Vogelgesang eine arterhaltende Leistung bei der Revierabgrenzung, bei der Anlockung des Weibchens, der Einschüchterung von Nebenbuhlern usw. zukommt. Wir wissen aber auch, dass das Vogellied seine höchste Vollendung, seine reichste Differenzierung dort erreicht, wo es diese Funktionen gerade nicht hat. Ein Blaukehlchen, eine Amsel singen ihre kunstvollsten und für unser Empfinden schönsten, objektiv gesehen am kompliziertesten gebauten Lieder dann, wenn sie in ganz mäßiger Erregung, »dichtend«, vor sich hinsingen. Wenn das Lied funktionell wird, wenn der Vogel einen Gegner ansingt, oder vor dem Weibchen balzt, gehen alle höheren Feinheiten verloren, man hört dann eine eintönige Wiederholung der lautesten Strophen. Es hat mich immer wieder geradezu erschüttert, dass der singende Vogel haargenau in jener biologischen Situation und in jener Stimmungslage seine künstlerische Höchstleitung erreicht wie der Mensch, dann nämlich, wenn er in einer gewissen seelischen Gleichgewichtslage, vom Ernst des Lebens gleichsam abgerückt, in rein spielerischer Weise produziert.« (Konrad Lorenz: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, Zeitschrift f. Tierpsychologie Bd. 5 , S 16 – 409 , 1942 ).
Wenn wir uns nun selbst fragen, wann es uns im Lauf unseres Lebens am besten gelungen ist, »in einer gewissen seelischen Gleichgewichtslage, vom Ernst des Lebens gleichsam abgerückt«, in rein spielerischer Weise unser Gehirn zu benutzen, so wird dieser Zustand höchster Kreativität für die meisten Menschen dort erinnerbar sein, wo wir ihn in unserer vom Effizienzdenken geprägten Vorstellungswelt am wenigsten vermutet hätten: in der frühen Kindheit.
Die entscheidenden Grundlagen für spätere kreative Leistungen werden in der frühen Kindheit angelegt, wenn Kinder sich in der Welt spielerisch erproben. Aber das Gehirn ist eine Baustelle, und zeitlebens kann man neue Erfahrungen machen und in den oberen Stockwerken Erweiterungen vornehmen. Aber je fester und breiter das Fundament angelegt ist, desto größer und stabiler kann das Bauwerk werden. Je dürftiger und je wackliger das Fundament geworden ist, desto größer wird die Gefahr, dass das darauf gebaute Haus entweder sehr schief oder sehr wacklig wird. Viele Stockwerke lassen sich auf solch schwachen Fundamenten auch nicht errichten. Dieses Bild hätten viele Menschen auch ohne die neueren Erkenntnisse der Hirnforscher genutzt, um zu beschreiben, wie Kreativität entsteht, wie sie gefördert werden kann und wodurch sie eingeschränkt wird. Und auch die Erweiterung dieses Bildes um die soziale Dimension und die genaue Kenntnis der soziokulturellen Strukturierung des menschlichen Gehirns ist gut mit dem Bild der Baustelle beschreibbar: Wenn alle Menschen eines bestimmten Kulturkreises traditionsgemäß ihre Häuser auf eine bestimmte Weise erbauen, gleichen sich eben auch die Fundamente, die Höhe und die Stabilität der Häuser in dieser Region weitgehend. Und wenn in den Gehirnen der Menschen einer bestimmten Kulturgemeinschaft weitgehend identische Grundmuster entstanden sind, bleibt auch das, was diese Menschen miteinander auszutauschen haben, sehr beschränkt und schwer verwandelbar.
Diese traditionell gewachsenen, d.h. transgenerational überlieferten Denkstrukturen und Vorstellungen haben sich nicht ohne Grund so herausgeformt, wie sie nun einmal in einer jeden Kulturgemeinschaft geworden sind. Sie hatten ursprünglich eine bestimmte, das Leben sichernde und den Zusammenhalt der Gemeinschaft festigende Funktion. Es ist daher wichtig, nach den Gründen für die Entstehung bestimmter Denkmuster im eigenen Kopf wie auch in den Köpfen aller anderen Mitglieder der betreffenden Kulturgemeinschaft, also der Familie, der Sippe, der Kommune, der Region, des Landes etc. zu suchen, in die man hineingeboren und in der man aufgewachsen ist. Wer sich auf dieses nicht ganz leichte, weil sehr
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