Was wir sind und was wir sein könnten
sie daran, was noch zu meiner Schulzeit allgemeine Überzeugung und pädagogische Praxis war: Dass damals alle Kinder mit Trisomie 21 als Mongoloide bezeichnet und als genetisch defizient, in ihrer Hirnentwicklung massiv gestört betrachtet wurden. Dass sie deshalb als schwachsinnig galten und natürlich unbeschulbar waren. Das war vor dreißig Jahren. Und heute haben die ersten Trisomie- 21 -Patienten ihr Abitur gemacht und ein Studium aufgenommen. Was ich in den Gesichtern einiger dieser Pädagogen anschließend erkennen konnte, war nicht nur Angst. Das war blankes Entsetzen.
Es lässt sich nur erahnen, was aus nicht mit solch einer schweren genetischen Störung belasteten Kindern werden könnte, wenn sie von Eltern, Lehrern und Erziehern so angenommen und begleitet würden, wie das diese Kinder mit Trisomie 21 unter der kompetenten Begleitung von besonderen Pädagogen erfahren durften: Liebevoll, zugewandt, ohne Vorurteile und ohne Erwartungen, ohne Druck und ohne Angst, einladend, ermutigend und inspirierend, mit Zuversicht und voll Vertrauen, und mit der ganzen didaktischen und methodischen Kompetenz, über die unsere moderne Pädagogik inzwischen verfügt. Wenn allen Kindern also das geboten würde, was alle Kinder und auch alle Erwachsenen mehr als irgendetwas anderes brauchen: Vertrauen.
Nichts ist in der Lage, die zum Lernen erforderliche Offenheit und innere Ruhe effektiver herzustellen als dieses Gefühl von Vertrauen. Deshalb suchen alle Kinder enge Beziehungen zu Menschen, die ihnen Sicherheit bieten und ihnen bei der Lösung von Problemen behilflich sind, die ihnen nicht nur sagen, sondern selbst vorleben, worauf es im Leben ankommt, und ihnen auf diese Weise Orientierung bei der Entdeckung ihrer eigenen Möglichkeiten zur Gestaltung ihres Lebens bieten. Vertrauen ist das Fundament, auf dem alle unsere Entwicklungs-, Bildungs- und Sozialisierungsprozesse aufgebaut werden. Vertrauen braucht ein Kind auch später, wenn es erwachsen geworden ist, mehr als alles andere, um sich der Welt und anderen Menschen offen, ohne Angst und Verunsicherung zuwenden und auch schwierige Situationen meistern zu können. Dieses Vertrauen muss während der Kindheit auf drei Ebenen entwickelt werden:
als Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung von Problemen,
als Vertrauen in die Lösbarkeit schwieriger Situationen gemeinsam mit anderen Menschen und
als Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Welt und das eigene Geborgen- und Gehaltensein in der Welt.
Lehrer und Erzieher, die selbst verunsichert sind oder ständig verunsichert werden, bieten die schlechtesten Voraussetzungen dafür, dass dieses Vertrauen wachsen kann. Was Kinder also stark und offen macht, hängt von der Stärke und Offenheit der Erwachsenen ab, unter deren Obhut sie aufwachsen. Vielleicht ist es dieses intuitive Wissen über ihre eigene Bedürftigkeit und Begrenztheit, was manchen Eltern, Erziehern und Pädagogen Angst macht.
Wir könnten mutiger und zuversichtlicher sein
Die Erkenntnisse der Neurobiologen belegen, dass sich Menschen zeitlebens verändern. Meist folgen sie dabei allerdings ihren bereits vorher erworbenen Mustern, so dass dieser Anteil, den wir Persönlichkeit oder Charakter nennen, weitgehend änderungsresistent erscheint. Deshalb dürfen wir uns hier nicht am Durchschnitt und der Norm orientieren, sondern müssen uns die sogenannten Ausnahmen genauer anschauen. Diese sogenannten Musterbrecher sind leider selten, aber sie zeigen, dass es geht und auch wie es gehen kann: Indem eine Person Anteile in sich wiederentdeckt und weiterentwickelt, die im alten »Betriebsmodus« verdrängt, unterdrückt oder abgespalten waren. Dazu kann man nicht von außen überredet, überzeugt, angeleitet oder unterrichtet werden. Wer andere Menschen auf einen solchen Weg bringen will, müsste in der Lage sein, sie zu ermutigen oder – wenn er das vermag – zu inspirieren, eine neue Erfahrung mit sich selbst, mit anderen, in der Schule oder der Ausbildung, im Beruf, in seiner eigenen Lebensgestaltung machen zu wollen.
Was die meisten Führungskräfte, Ausbilder, Lehrer und Erzieher stattdessen ständig versuchen, nämlich andere »zu motivieren«, ist hirntechnischer Unsinn, führt nicht in die Selbstverantwortung und Selbstgestaltung, sondern erzeugt bestenfalls Dressur- und Abrichtungsleistungen, also erzwungene Anpassung an die Wünsche oder Anordnungen des jeweiligen Dompteurs. Wer andere zu motivieren
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