Was wir sind und was wir sein könnten
Erfordernissen hilflos ausgeliefert sind, dass sie sich fügen, an die Verhältnisse anpassen müssen und dass es unter diesen Bedingungen nichts Bedeutsameres gibt, als das nackte Überleben zu sichern. Dann ist jeder sich selbst der Nächste, und jeder versucht auf seine Weise durchzukommen. Manche gehen in den Widerstand, andere versuchen abzutauchen, der Rest hält aus und hofft auf bessere Zeiten oder auf Rettung, woher auch immer sie kommen mag.
Meist dauert es mehrere Generationen, bis es den nachwachsenden Kindern und Jugendlichen gelingt, sich allmählich aus diesen Erfahrungsräumen ihrer Vorfahren zu lösen. Vorreiter dieses Prozesses der Wiedererlangung eigener Gestaltungskraft sind meist die Nachkommen solcher Eltern, denen es unter den ehemals herrschenden restriktiven Bedingungen noch am besten gelungen war, sich dem allgemeinen Anpassungsdruck zu widersetzen. Und erleichtert wird dieser Prozess durch Begegnungen mit solchen Vorbildern, die in weniger restriktiven Erfahrungsräumen aufgewachsen sind und dort offenere Haltungen entwickeln konnten.
Diese »Musterbrecher« eröffnen neue Erfahrungsräume, die zunächst als Jugendkulturen von den Erwachsenen beargwöhnt, später geduldet und schließlich von ihnen sogar selbst erschlossen werden. Die so gemachten neuen Erfahrungen führen zur Herausbildung anderer Haltungen. Damit ändern sich die Bewertungen, und mit diesen anderen Bewertungen ändert sich auch der Blick für das, worauf es im Leben ankommt. Und das ist nun nicht mehr das nackte Überleben, das Zurückstellen eigener Bedürfnisse oder die Besitzstandswahrung, sondern das Wiederentdecken der eigenen Entdeckerfreude und Gestaltungslust und die Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen, auch der Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen, und die Zuversicht, Probleme und Konflikte lösen zu können. Wenn es innerhalb eines Kulturkreises zu einer solchen Veränderung der inneren Haltungen und Überzeugungen bei einer kritischen Masse der Bevölkerung gekommen ist, so entsteht ein neuer Geist, und die Menschen beginnen, über sich hinauszuwachsen.
Statt so weiterzumachen wie bisher,
könnten wir auch versuchen, über uns hinauszuwachsen
»Unsere größte Angst ist nicht, unzulänglich zu sein. Unsere größte Angst ist, grenzenlos mächtig zu sein. Unser Licht, nicht unsere Dunkelheit ängstigt uns am meisten.« Auch Sie werden diese Aussage von Nelson Mandela wohl ein zweites Mal lesen müssen, weil Sie glauben, sich beim ersten Mal verlesen zu haben. Dass es immer auch ein bisschen Angst macht, wenn man alte Gewohnheiten überwinden und sich neuen Herausforderungen stellen will, wissen wir alle. Aber dass in uns ein Potential verborgen sein soll, das wir offenbar noch gar nicht kennengelernt, das wir bestenfalls bisher nur andeutungsweise zur Entfaltung gebracht haben, passt nicht so recht in unser Selbstbild. Wieso wir Angst vor dem haben sollten, was da noch in uns steckt, lässt sich kaum verstehen. Und als mächtig haben wir einen Menschen bisher doch immer nur dann erlebt, wenn er rücksichtslos und unter Ausblendung aller Bedenken seine Interessen auf Kosten anderer durchsetzt. Wenn er, gesteuert von den archaischen Notfallprogrammen in seinem Hirnstamm, mit geballter Faust auf den Tisch haut, blind vor Wut alle anderen herunterputzt oder alles kurz und klein schlägt. Oder wenn er andere Menschen bedroht oder von sich abhängig macht und sie dazu bringt, dass sie Angst vor ihm haben. Und was ein solcher Mensch ausstrahlt, ist doch auch kein Licht, das ist finstere, archaische Dunkelheit.
Was also meint dieser Freiheitskämpfer, Friedensstifter und Nobelpreisträger Nelson Mandela mit dem, was er uns hier sagt? Könnte es sein, dass wir durch die Art und Weise, wie wir leben, wie wir miteinander umgehen und durch all das, was wir uns gegenseitig einreden, uns selbst so sehr begrenzen und an der Entfaltung unserer Potentiale hindern, dass es uns ängstigen würde, wenn wir einem Menschen begegneten, der diesen Begrenzungen entkommen ist, der sie für sich überwunden hat? Von dem eine Kraft ausstrahlt, die wir nicht kennen, und der unser Bild bedroht, das wir uns von uns selbst gemacht haben?
Ich war vor einiger Zeit zu einer Tagung des Philologenverbandes eingeladen und habe die dort versammelten Gymnasiallehrer gefragt, was aus ihrer Sicht die größte und bedeutendste pädagogische Leistung der letzten drei Jahrzehnte sei. Weil nur sehr spärliche Antworten kamen, erinnerte ich
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