Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
der Entwicklung der Identität sieht, wird sich noch einmal mit den Fragen auseinandersetzen: Wer bin ich, wie bin ich geworden, wie werde ich in Zukunft sein. Er wird Erinnerungen suchen, die gerade diese Fragestellungen betreffen, die immer einmal wieder einen Aspekt der Identität beleuchten.
Für die, die sich für ihr Leben in seiner Kontinuität interessieren und die sich gerne mit anderen Menschen auch über Biografisches austauschen, wurden Workshops entwickelt, die dieses Bedürfnis abdecken. James E. Birren 35 , einer der Pioniere im Rahmen der Biografiearbeit in Gruppen, hat folgendes Konzept:
Er bietet Gruppen an, die zehn Wochen dauern, in jeder Woche findet ein Treffen von etwa zwei Stunden statt. Teilnehmer und Teilnehmerinnen schreiben Geschichten zu bestimmten Themen, die vorgegeben sind, wie etwa: Wichtige Entscheidungen im Leben, die Geschichte der Gesundheit und des Körpers, die Rolle des Geldes in der Herkunftsfamilie, die Erfahrungen mit Tod und Sterben, die eigene Familie etc.
Ein Thema wird jeweils benannt und diskutiert. Zu Hause schreiben die Teilnehmenden einen Text zu diesem Thema, der beim nächsten Treffen in Kleingruppen einander vorgelesen wird. Dadurch werden wechselseitig weitere Erinnerungen angestoßen: durch Ähnlichkeit – so etwas habe ich auch erlebt – oder durch Unterschiede. Da erzählt eine Frau, sie sei als Kind auf Bäume geklettert, einer anderen Frau fällt dazu ein, dass sie ganz dick und ganz unbeweglich war und dass die kletternden Kinder sie nur traurig und neidisch gemacht haben. Die Trauer um das, was nicht möglich war, der Neid, weckt wiederum weitere Geschichten.
Angeleitete Biografiearbeit wird von Birren ausdrücklich nicht als Therapie verstanden, da damit keine emotionalen Probleme gelöst werden, was für ihn die Definition von Therapie ist. Vermutlich hat es auch berufspolitische Gründe, dass Biografiearbeit nicht als Therapie verstanden wird, denn sie wird oft von Menschen angeleitet, die keine Therapeuten oder Therapeutinnen sind. Dennoch, Biografiearbeit kann eine therapeutische Wirkung haben: Die Selbsterkenntnis wächst, die Menschen stehen mehr in Kontakt mit sich und ihrer Lebensgeschichte, erleben Zusammenhänge und empfinden ihr Leben als sinnvoll. Der Austausch zwischen den Teilnehmenden ist existentiell befriedigend: Latente Geschichten werden geweckt, wenn andere ihre Geschichten erzählen. Das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung steigen, wenn sie austauschen, wie sie ihr Leben bewältigt haben. Zudem stärkt das einander Erzählen die Bindung untereinander. Das wird daran ersichtlich, dass die Gruppenteilnehmer sich auch nach Beendigung des Kurses weiter treffen.
Erinnern, damit man loslassen kann: Trauern
Trauerarbeit ist geradezu das Paradigma für die therapeutische Wirkung eines Lebensrückblicks: Indem wir uns an das Leben mit dem verstorbenen Menschen vorstellungsbezogen und emotional betont noch einmal erinnern, Geschichten erzählen, die Schlüsselsituationen für das gemeinsame Leben sind, können wir uns von diesem Menschen ablösen und uns, wieder mehr in Kontakt mit uns selbst, neu auf das Leben einlassen, mit neuen Plänen für den Fortgang des Lebens, mit neuen Sehnsüchten.
Unsere Erinnerungen sind uns besonders kostbar, wenn wir einen Menschen verloren haben, vor allem wenn wir ihn oder sie durch den Tod verloren haben. Das ist auch die existentielle Situation, in der uns deutlich wird, dass das Erinnern eine therapeutische Wirkung hat, dass wir zwar Menschen verlieren, nicht aber die Erinnerungen an sie und dass die Erinnerungen ein großer Schatz sind. Mit diesem Schatz können wir weiter leben, haben wir eine Zukunft.
Wer trauert, erzählt Geschichten aus dem Leben mit dem verstorbenen Menschen. Wollen Mitmenschen Trauernden helfen, dann ermutigen sie sie dazu, zu erzählen. Und man trägt als in irgendeiner Form mitbeteiligter Mensch auch zu diesen Erzählungen bei. Es hilft, wenn man einem trauernden Menschen zunächst einmal einfach erzählt, wie man den Verstorbenen oder die Verstorbene kennengelernt hat, in welchen Situationen er oder sie für uns wichtig war, was man an ihm oder an ihr besonders gemocht hat. Es empfiehlt sich nicht, mit dem zu beginnen, was einem schwer gefallen ist mit diesem Menschen. Auch das darf ausgedrückt werden, aber erst dann, wenn dies vom trauernden Menschen selber benannt wird. Und meistens stellt sich dann auch die Frage: Wie habt ihr denn einander eigentlich
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