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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gruen
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versucht, mir in die Augen zu
sehen.
    »Hm?«
    »Sind Sie so weit fürs Essen, Mr. Jankowski?«
    »Es kann noch nicht Mittag sein. Ich sitze hier doch erst einen
Moment.«
    Sie sieht auf ihre Uhr – eine richtige Uhr mit Zeigern. Die Mode mit
diesen digitalen Dingern ist Gott sei Dank wieder vorbei. Wann lernen die
Menschen endlich, dass man nicht alles machen sollte, nur weil man es kann?
    »Es ist drei Minuten vor zwölf«, sagt sie.
    »Oh. Ja dann. Welcher Tag ist heute eigentlich?«
    »Na, Sonntag, Mr. Jankowski. Der Tag des Herrn. An dem Ihre Familie
kommt.«
    »Das weiß ich. Ich meinte, was gibt es zu essen?«
    »Sicher nichts, was Ihnen schmeckt«, sagt sie.
    Ich sehe auf und will schon böse werden.
    »Ach, kommen Sie, Mr. Jankowski«, lacht sie. »Ich habe doch nur Spaß
gemacht.«
    »Ich weiß«, antworte ich. »Was denn, jetzt habe ich nicht mal mehr
Sinn für Humor?«
    Aber ich bin mürrisch, weil es vielleicht stimmt. Ich kann es nicht
mehr einschätzen. Ich bin so daran gewöhnt, ausgeschimpft und herumkommandiert
und gegängelt und abgefertigt zu werden, dass ich nicht mehr weiß, wie ich
reagieren soll, wenn mich jemand wie einen Menschen behandelt.
    Rosemary will mich zu meinem üblichen Tisch fahren, aber da
mache ich nicht mit. Nicht zu diesem alten Furz McGuinty. Er trägt wieder seine
Clownsmütze – sicher hat er als Erstes heute früh die Schwestern gebeten, sie
ihm aufzusetzen, dieser blöde Trottel, oder er hat damit geschlafen –, und an
seine Stuhllehne sind immer noch die Heliumballons gebunden. Allerdings fliegen
sie nicht mehr richtig. Ihnen geht langsam die Luft aus, ihre Schnüre sind
schon ganz schlaff.
    Als Rosemary meinen Stuhl in seine Richtung dreht, rufe ich: »Oh,
nein, auf keinen Fall. Da! Da will ich hin!« Ich deute auf einen leeren Tisch
in der Ecke. Er steht am weitesten von meinem üblichen Tisch entfernt. Ich
hoffe nur, dass ich dort außer Hörweite bin.
    »Ach, kommen Sie schon, Mr. Jankowski«, sagt Rosemary. Wir halten
an, und sie stellt sich vor mich. »Das kann doch nicht ewig so weitergehen.«
    »Wieso denn nicht? Ewig kann bei mir nächste Woche heißen.«
    Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Wissen Sie überhaupt noch,
warum Sie so wütend sind?«
    »Allerdings. Weil er lügt.«
    »Geht es wieder um die Elefanten?«
    Als Antwort schürze ich nur die Lippen.
    »Für ihn ist das anders, wissen Sie.«
    »Schnickschnack. Wenn man lügt, dann lügt man.«
    »Er ist ein alter Mann«, sagt sie.
    »Er ist zehn Jahre jünger als ich«, entgegne ich und richte mich
entrüstet auf.
    »Ach, Mr. Jankowski«, seufzt Rosemary und richtet den Blick gen
Himmel, als würde sie um Beistand bitten. Dann geht sie vor meinem Stuhl in die
Hocke und legt ihre Hand auf meine. »Ich dachte, wir beide verstehen uns.«
    Ich runzle die Stirn. Das gehört nicht zum üblichen
Schwestern/Jacob-Repertoire.
    »Er vertut sich vielleicht bei den Einzelheiten, aber er lügt
nicht«, erklärt sie. »Er glaubt wirklich, dass er den Elefanten Wasser geholt
hat. Das glaubt er.«
    Ich antworte nicht.
    »Manchmal, wenn man älter wird – und ich meine damit nicht Sie, ich
meine das allgemein, schließlich altert jeder Mensch anders –, können Dinge,
über die man nachdenkt und die man sich wünscht, anfangen, real zu wirken. Und
dann glaubt man sie selbst, und ohne es zu merken, gehören sie zur eigenen
Geschichte. Und wenn jemand einen dann herausfordert und sagt, sie seien nicht
wahr – na ja, dann ist man beleidigt. Weil man sich an den ersten Teil nicht
erinnert. Man weiß nur, man wurde ein Lügner genannt. Selbst wenn Sie bei den
fachlichen Details recht haben, können Sie verstehen, warum Mr. McGuinty sich
geärgert hat?«
    Finster blicke ich auf meinen Schoß.
    »Mr. Jankowski«, fährt sie leise fort. »Lassen Sie sich an den Tisch
mit Ihren Freunden bringen. Kommen Sie schon. Tun Sie mir den Gefallen.«
    Na toll. Zum ersten Mal seit Jahren bittet mich eine Frau um einen
Gefallen, und mir liegt allein der Gedanke schwer im Magen.
    »Mr. Jankowski?«
    Ich sehe zu ihr auf. Ihr glattes Gesicht ist eine Armeslänge von mir
entfernt. Sie blickt mir in die Augen und wartet auf eine Antwort.
    »Ach, na gut. Aber glauben Sie nicht, ich rede mit denen«, antworte
ich mit einer angewiderten Geste.
    Und das tue ich auch nicht. Ich sitze da und höre zu, wie der alte
Lügner McGuinty über die Wunderwelt des Zirkus und seine Erfahrungen als Junge
berichtet und wie die blauhaarigen alten Damen

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